Jeder Zehnte lebt an einem Hotspot
Neue Normalität. Wassermangel im gesamten Mittelmeerraum und dramatische Ernteausfälle wegen anhaltender Trockenheit in Ostafrika – Klimaforscher zeigen, wie sich die Erde verändern wird.
WIEN, POTSDAM (SN). Klimaforscher haben ein noch plastischeres Vorhersagemodell ausgearbeitet, das zeigen soll, ab wann wo mit welchen Auswirkungen der zunehmenden Erderwärmung zu rechnen ist.
Ergebnis: Bereits jeder zehnte Mensch lebt an einem Ort der Erde, der mit hoherWahrscheinlichkeit bis Ende des Jahrhunderts zu einem der Brennpunkte der Folgen ungebremster globaler Erwärmung wird. Betroffen sind der Mittelmeerraum, Ostafrika, der Nahe Osten über Afghanistan, Pakistan und Indien bis nach Thailand, die Philippinen, Indonesien, Mittelamerika sowie nördliche Teile Südamerikas.
Interessant ist vor allem, dass die Unruhen in der arabischen Welt genau in der vom Klimawandel am stärksten betroffenen Region stattfinden. Zwar stammt aus Nordafrika und dem Nahen Osten auch ein Großteil der fossilen Energieträger Öl und Gas, de- ren Verbrennung den Klimawandel verstärken. Aber es sind auch Länder wie Ägypten oder Tunesien betroffen, die keine Öl- oder Gasvorkommen besitzen.
Bei dem Modell der Wissenschafter geht es um das Zusammenwirken von Folgen des Klimawandels auf Ernten, Ökosysteme, Gesundheit und die Verfügbarkeit vonWasser.
Veränderungen in mehreren dieser Sektoren sind in der Amazonasregion, im Mittelmeerraum und in Ostafrika zu erwarten. In einem extremeren Szenario wären noch deutlich mehr Menschen betroffen. Wenn sich die Klimafolgen überlappen, können sich Wechselwirkungen ergeben – „das erzeugt ein Vielfaches an Druck auf die Lebensgrundlagen der Menschen in den betroffenen Regionen“, sagt die Studienleiterin Franziska Piontek vom PotsdamInstitut für Klimafolgenforschung. „Und das ist auch der Grund, warum wir untersucht haben, wo der Klimawandel besonders schmerzlich spürbar werden wird. Dabei stellte sich heraus, dass das sowohl in Entwicklungs- als auch in Industrieländern der Fall ist“, betonte die Forscherin. Die Ergebnisse der Modellrechnung lassen erkennen, dass sich die Risiken für Natur und Gesellschaft mit jedem Grad Celsius, um das wir unseren Planeten erwärmen, deutlich erhöhen. Mit dieser Studie wurde erstmals versucht, chen, auf die globale Erwärmung zu reagieren. Die Studie war auch für die Forscher überraschend. So zeigte sich, dass das Verwenden mehrerer verschiedener Modelle des Klimawandels und seiner Folgen dazu führte – auch wenn dies zunächst als Widerspruch erschien –, dass nicht nur die Robustheit der Ergebnisse zunahm, sondern auch die Streubreite.
So wurde etwa ermittelt, dass der gesamte Mittelmeerraum betroffen sein wird – vor allem durch akuten Wassermangel. Für diese Berechnung wurden Daten aus mehr als 30 Jahren herangezogen und mit der Erderwärmung in Relation gesetzt. Was heute noch ein Extrem ist, etwa große Hitze und so gut wie kein Regen, könnte morgen bereits die neue Normalität sein.
In den Brennpunktregionen Afrikas könnten sogar vergleichsweise geringe Veränderungen der Temperatur bereits zu Ernteverlusten führen, die Kleinbauern nicht verkraften würden.
Hans Joachim Schellnhuber, Di- rektor des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung, fasst die allgemeine Ratlosigkeit über den so unwägbar erscheinenden Klimawandel mit scharfem Verstand so zusammen: „Es ist ein Elefant im Zimmer. Merkwürdigerweise scheinen ihn aber viele nicht zu sehen.“Viele Entscheidungsträger zögen es vor, sich gegenüber den Auswirkungen der globalen Erwärmung blind zu stellen, während viele Wissenschafter ihren Blick nur auf sehr spezielle Aspekte des Klimawandels fokussierten. „So ähneln wir den Blinden aus der Fabel, die unterschiedliche Teile des gleichen Elefanten berühren: beim Ergreifen des Rüssels ist einer von ihnen davon überzeugt, eine Schlange in der Hand zu halten, ein anderer hält den Schwanz für ein Seil. Um das Tier zu erkennen, müssten sie miteinander reden, um die unterschiedlichen Teile zu identifizieren und zusammenzusetzen“– und genau das ist in diesem internationalen Studienprojekt geschehen.