Wie die Matura entwertet wird
Reifeprüfung. Die Matura ganz abzuschaffen wäre schade, findet Bildungsforscher Hopmann. Zu behaupten, die neue Zentralmatura bringe mehr Gerechtigkeit, sei allerdings völlig haltlos.
Soll die Matura abgeschafft werden? Die AHS-Lehrergewerkschaft kann es sich vorstellen, SPÖ-Bildungssprecherin Laura Rudas ebenfalls. Was sagt Bildungsexperte Stefan Hopmann dazu?
SN: Was halten Sie von dem Vorschlag, die Matura abzuschaffen? Hopmann: Na ja, ich denke, da ist bei den Gymnasialpädagogen ein bisschen der Frust durchgekommen, dass der Status der Matura angekratzt wird: Auf der einen Seite gibt es die Zentralmatura, auf der anderen Einschränkungen bei der Studienzulassung. SN: Aber ist es de facto nicht so, dass die Matura durch Aufnahmetests an Unis oder Fachhochschulen ohnehin entwertet wird? Hopmann: Ja. Denn bei der Matura kommt es dann nur noch darauf an, dass ich durchkomme. Aber nicht, wie. Die Frage ist aber: Wie regle ich Übergänge? Das fängt schon in der Volksschule an. Soll die aufnehmende Institution entscheiden oder die abgebende? Soll die Entscheidung vor Ort fallen oder zentral? Jede dieser Optionen hat eine andere Wirkung – also ob es einen Numerus clausus gibt oder Aufnahmetests wie beim Medizinstudium. Und jede dieser Lösungen hat Vor- und Nachteile. Was keine Lösung ist, ist, alles gleichzeitig zu wollen: Und das ist wieder einmal Österreich. SN: Also geht die aktuelle Debatte in die falsche Richtung? Hopmann: Ich finde es vor allem einen Blödsinn, alles gleichzeitig anzubieten. Denn das bedeutet eine Überstrapazierung aller Beteiligten. Also entweder bedeutet die Matura etwas oder eben nicht. Aber die Matura zu erschweren und sie gleichzeitig zu entwerten, wie das passiert, das ist ja absurd. SN: Sie sähen also kein Problem darin, die Matura abzuschaffen? Hopmann: Die Matura ist auch ein Übergangsritus und es ist wichtig, Übergänge zu markieren. Deswegen fände ich es schade, sie völlig abzuschaffen. Zentral ist es zu klären, was man von einer Matura erwarten darf: Der Glaube, man könnte garantieren, dass da- durch in der Bevölkerung die gleichen Grundkompetenzen vorhanden sind, ist Schmarren. Und wenn SPÖ-Bildungssprecherin Rudas darüber redet, dass durch die Zentralmatura objektivere und gerechtere Entscheidungen fallen, ist das völliger Blödsinn.
SN: Inwiefern? Hopmann: Dadurch, dass alle über einen Leisten springen, wird es ja nicht gerechter. Das wäre nur der Fall, wenn wir alle gleich beschaffen wären, das gleiche gelernt hätten. Die Vorstellung, dass alle dieselben Standards erfüllen, ist auch ein bisschen erschreckend. Und ist es nicht schade, wenn ein Schulsystem nicht flexibel darin ist, Talente zu erkennen? Jedes System hat Ungerechtigkeiten. Zentrale Veranstaltungen haben eine andere Art von Ungerechtigkeit. Sie sind wirken in der Regel nachweislich stärker sozial segregierend. Das ist eine Objektivität, die zulasten derer geht, die weniger Ressourcen haben. SN: Sie würden also die Zentralmatura, wie sie derzeit umgesetzt wird, abschaffen? Hopmann: Ich habe nichts dagegen, wenn es zentrale Bestandteile zusätzlich zur mündlichen und schriftlichen Matura gibt. Aber die dürfen nicht entscheidend sein. Wir sind die Einzigen in Europa, die die wüste Kombination haben, dass die Zentralmatura in den jeweiligen Fächern entscheidend ist und dies zugleich mit der neuen Kompetenzorientierung verbunden wird. Würden die Maßnahmen halten, was versprochen wird, hätte ich kein Problem damit. Aber empirisch lässt sich keines dieser Versprechen einlösen. Das ist weder Ideologie noch Politik. Das ist einfach so. Wenn das Gegenteil behauptet wird, ist das nichts als vorsätzliche Irreführung der Öffentlichkeit. SN: Hätte man also besser alles so belassen, wie es bisher war? Hopmann: Man kann über vieles im Gymnasium streiten. Dass es etwa eine Geburtsschein-Schule ist und keine Begabtenschule. Eine Schule, die sich an eine bestimmte Klientel mit bestimmtem Hintergrund wendet. Nur die Erwartung, man müsse nur an zentralen Stellschrauben drehen – egal ob es sich um Zentralmatura, Bildungsstandards oder PISATest handelt – und schon haben wir bessere Leistungen, ist nicht haltbar. Die Sau wird ja nicht vom Wiegen fetter. SN: Seit Langem tobt der Streit in Österreich über die Gesamtschule. Die SPÖ will sie, die ÖVP nicht. Ist die Schulform überhaupt entscheidend für den Schulerfolg? Hopmann: Nein. Wobei ich nichts gegen die Gesamtschule habe, aber auch nichts gegen Gliederungsformen. Es gibt kein Schulsystem, das keine Vor- und Nachteile hat. Wenn ich ein System habe, das ich über alle stülpe, dann sind einige Menschen dem immer ferner und andere näher. Was man braucht, ist eine ehrliche Debatte darüber, was wir brauchen. Denn weder ist das Gymnasium das Optimum zur Begabtenförderung, noch ist die Gesamtschule die Lösung aller sozialen Fragen. SN: Was braucht es? Wie könnte man aus der verfahrenen Ideologiedebatte herauskommen? Hopmann: Man müsste endlich über Inhalte reden, nicht über die Form. Was soll Schule leisten? Ich höre immer, die Schule soll den Übertritt von der Familie in die Gesellschaft unterstützen. Gut, dann diskutieren wir konkret darüber, wie ich jungen Menschen helfen kann, denen dieser Übergang schwerfällt. Wir können es uns nicht leisten, so viele aus der Schule zu entlassen, die nicht reif für den Arbeitsmarkt sind.
SN: Das heißt konkret? Hopmann: Das Wichtigste wäre, den Spielraum der einzelnen Schulen zu erhöhen. Schulen müssen je nach Umfeld und Schülern unterschiedlich gestaltet werden können. Welche Lehrer zum Einsatz kommen, ob Ganz- oder Halbtagsangebote: Vorarlberg ist nicht das Gailtal und das Gailtal nicht Simmering. Es bringt einfach nichts, wenn man meint, man könnte allen mit derselben Verordnung helfen. Das würde auch heißen, dass Schulen unterschiedlich viele Ressourcen kriegen müssten – je nachdem, welche Probleme sie haben. Aber dafür hätten wir ein Dienstrecht gebraucht, das lockerlässt, dazu bräuchten wir ein neues Schulrecht. Die Devise ist, mehr zu differenzieren. Wobei sekundär ist, über welche Schulform das läuft.
SN: Ihr Rat an die Politik? Hopmann: Schmeißt euer Dauerstreitthema weg und lasst euch auf bereits Erprobtes ein. Es gibt ja schon ziemlich viel Gutes in der Schulpraxis und es gibt eine gute Forschungsbasis – also genug, was man umsetzen könnte. Es gibt also noch sehr viel Grün. Die Frage ist, ob die von oben noch mehr kaputt trampeln.