„Schüler haben Recht auf Ethikunterricht“
Wirksam. Der Ethikunterricht wurde politisch verschleppt. Wo es ihn gibt, sind Jugendliche weniger ausländerfeindlich.
Der Salzburger Religionspädagoge Anton Bucher fordert „den längst überfälligen“Ethikunterricht ein. Im SN-Gespräch erläutert der Experte, was den Jugendlichen derzeit vorenthalten wird. SN: Herr Professor Bucher, was entgeht Jugendlichen, wenn sie keinen Ethikunterricht haben? Bucher: Das Schulorganisationsgesetz sagt in Paragraf 2, dass Schüler nicht nur die Kulturtechniken erwerben sollen, sondern dass auch ihre religiösen und sittlichen Anlagen zu fördern sind. 1962, als dieser Text beschlossen wurde, konnte man noch davon ausgehen, dass diese Aufgabe durch den konfessionellen Religionsunterricht abgedeckt ist. Mittlerweile gibt es aber erhebliche Abmeldungszahlen von Religion.
Wir wissen heute auch aus einschlägigen Studien, dass Ethikunterricht positive Auswirkungen hat. Die Schülerinnen und Schüler lernen nachgewiesenermaßen mehr Toleranz und sie eignen sich ein entsprechendes Faktenwissen an, zum Beispiel können sie zwischen passiver und aktiver Euthanasie unterscheiden. Auch das Gefühl des ethischen Relativismus, das für das Jugendalter typisch ist, wird vermindert. Nicht zuletzt werden ausländerfeindliche Stereotype abgebaut. SN: Es gibt dort, wo Ethikunterricht stattfindet, eine hohe Zustimmung. Die könnte aber auch daher kommen, dass die Jugendlichen wie bei Religion auf ein Unterrichtsfach spekulieren, in dem bei der Note nichts passieren kann. Bucher: Tatsächlich bekommen beinahe 80 Prozent in Religion ein Sehr gut. Aber Ethikunterricht oder Religionsunterricht sind keine Plauderstunden. Dass dort viel diskutiert wird, ist genau die Qualität dieses Unterrichts: Die Jugendlichen haben das Gefühl, dass endlich ihre eigene Meinung gefragt ist und dass persönliche Probleme zur Sprache kommen, die sie bewegen.
Ich denke, dass die Schule diesen Raum geben soll, in dem es um existenzielle Lebensfragen und um ethische Fragen geht. SN: Sie schlagen in Ihrem Buch das Schweizer Modell vor, das heißt, es würde nur ein einziges Fach „Ethik und Religionen“geben. Was wäre der Vorteil, was der Nachteil? Bucher: Es wäre natürlich kostengünstiger, wenn die Klassen nicht auf Ethik und auf Religion und dort wiederum auf die einzelnen Religonsgemeinschaften aufgeteilt werden müssten. Aber ganz abgesehen davon wäre es für den Staat eine große ökumenische und religionsverbindende Herausforderung. Man müsste sich über die konfessionellen und religiösen Grenzen hinweg fragen, was österreichische Schülerinnen und Schüler in Ethik und Religion wissen sollen: Welche Einstellungen sollen gefördert werden? Welches religionskundliche Wissen wollen wir ihnen mitgeben? Die Inhalte könnten in Richtung eines Weltethos gehen.
Es ist aber auch erwiesen, dass Jugendliche, die sich einer bestimmten Religion zugehörig fühlen, gerade auch in der Auseinandersetzung mit anderen Religionen ihre eigene religiöse Identität stärker entfalten können. SN: Im Religionsunterricht wird vom Lehrer, von der Lehrerin erwartet, dass sie existenziell etwas in den Unterricht einbringen, auch ihre eigene Überzeugung. Ginge das im Unterrichtsfach Ethik und Religionen nicht verloren? Bucher: Ich selbst habe in den unterschiedlichsten Fächern Lehrerinnen und Lehrer erlebt, die für mich eine existenzielle Bedeutung gehabt haben. Ich habe das bei Deutschlehrern erlebt, bei Philosophielehrern, bei Religionslehrern. Ich würde mir also von jedem guten Lehrer, von jeder guten Lehrerin erwarten, dass sie einen Bezug ihres Unterrichts zur konkreten Lebenssituation der jungen Menschen herstellen können.
Aufgabe des Religionsunterrichts ist es schon längst nicht mehr, so etwas wie eine kirchliche Nachwuchssicherung zu betreiben. Das erklärte Ziel des Religionsunterrichts ist es, die Schülerinnen und Schüler zu einem eigenständigen Urteil in religiösen Fragen hinzuführen. Dieses Ziel gilt sogar dann als erfüllt, wenn Jugendliche das religiöse Angebot der Kirche ablehnen, das aber argumentativ und begründet tun. SN: Viele Religionslehrerinnen und Religionslehrer machen unter den derzeitigen kirchlichen wie gesellschaftlichen Voraussetzungen eine sehr gute Arbeit. Wird die nicht durch die ständige Debatte über den Ethikunterricht gefährdet? Bucher: Das kann ich nur unterstreichen, dass Religionslehrerinnen und Religionslehrer eine her- vorragende Arbeit leisten. Sie stehen ja in einem großen Spannungsfeld: Auf der einen Seite kirchliche Erwartungen, die zum Teil restaurativ sind, und auf der anderen Seite eine fortschreitende Säkularisierung, wodurch Kindern zum Teil jedes religiöse Grundwissen fehlt.
Trotzdem gelingt es Religionslehrerinnen und Religionslehrern, auch kaum mehr religiös sozialisierten Kindern Religion so zu vermitteln, dass sie eine existenzielle Bedeutung für sie bekommt. Zum Beispiel, dass bei den Kindern und Jugendlichen die Frage nach Gott geweckt wird, mit der sie vielleicht bis dahin noch nie konfrontiert worden sind. Zahlreiche Studien zum Religionsunterricht zeigen, dass das in einem hohen Maße gelingt. Daher hätte ich auch nichts dagegen, dass Religionslehrerinnen und Religionslehrer mit einer Zusatzausbildung auch Ethik unterrichten können. Ein existenziell relevanter Ethikunterricht ist von einem existenziell relevanten Religionsunterricht kaum zu unterscheiden.
Dass diese Arbeit gefährdet wäre, dafür sehe ich keinerlei Anzeichen. Es deutet nichts darauf hin, dass die geltenden rechtlichen Regelungen für den Religionsunterricht geändert würden. SN: Derzeit ist der Stand der Diskussion eine ArtWahlpflicht: Man geht entweder in den Religionsunterricht oder in Ethik. Bucher: Damit könnte ich sehr gut leben, aber nur, wenn das endlich bundesweit so geregelt wird. Nur so können wir erreichen, dass der Ethikunterricht und der Religionsunterricht außer Streit gestellt werden, ganz unabhängig von einer jeweils amtierenden Bundesregierung.
Das andere, ein Fach „Ethik und Religionen“, ist eine Vision.