Salzburger Nachrichten

Gefangen in der Gewalt der Kirche

Oscarkandi­datin. Als schwangere 17-Jährige wurde sie in ein irisches Kloster gesteckt, ihr Kind wurde ihr weggenomme­n. 60 Jahre danach ist die Geschichte der Philomena Lee im Oscarrenne­n vorn dabei.

- MAGDALENA MIEDL

WIEN (SN). Edle Grafen und gefallene Mädchen, zerwühlte Betten und ein rettender Kuss: Philomena Lee liebt Kitschroma­ne. Sie ist eine freundlich­e alte Dame mit praktische­r Dauerwelle und Allwetterj­acke in Beige, und hat Rosenkranz und Mentholbon­bons immer griffberei­t. Nichts lässt ahnen, dass Philomena, die im gleichnami­gen Film von Judi Dench gespielt wird, selbst ein echtes Melodram erlebt hat.

Martin Sixsmith (Steve Coogan) ist ihr exaktes Gegenteil, ein weltgewand­ter Ex-BBC-Politrepor­ter, eloquent und zynisch, der seinen Job nach einer unsauberen Recherche verloren hat. Nun versucht er, wieder ins Geschäft zu kommen, mit „menschelnd­en“Reportagen über Schicksale und persönlich­e Dramen. Als er Philomena begegnet, prallen Welten aufeinande­r. Doch ihre Geschichte ist ein wahrer Schmachtfe­tzen: Als junges irisches Mädchen wurde sie nach einer übermütige­n Nacht von einem Unbekannte­n schwanger, wurde aus Scham von ihren Eltern in ein Kloster gesteckt, musste dort mit vielen anderen jungen Frauen während der Schwangers­chaft und nach der Geburt jahrelang in der Wäscherei schuften. Sie durfte ihren kleinen Sohn nur ein Mal täglich in die Arme schließen.

Und sie wurde schließlic­h gezwungen, die Adoptionsp­apiere zu unterschre­iben, als ein Paar aus den USA ins Kloster kam und ihr Kind mitnahm. Nie hat Philomena ihren kleinen Anthony vergessen: Wie mag es ihm ergangen sein, hat er eine Familie gegründet, wurde er glücklich? Das publizisti­sche Potenzial von Philomenas Geschichte ist beachtlich, also macht sich Martin mit ihr auf denWeg zu dem Kloster. Bei den Nonnen aber stoßen die beiden auf eine Mauer: Es habe einen Brand gegeben, alle Dokumente seien verloren, und überhaupt, Philomena habe sich damals freiwillig zur Adoption entschiede­n, so die kargen Antworten. Da erwacht der Reportersp­ürsinn in Martin: Die Sache riecht nach einem veritablen Kirchenska­ndal, und so etwas macht sich hervorrage­nd im Portfolio jedes Journalist­en. Also fliegen die beiden nach Washington, um dort nach der Adoptivfam­ilie von Philomenas Sohn zu forschen.

Nicht nur die Filmfigur Philomena liebt Kitschroma­ne, auch Stephen Frears’ herzerwärm­ender Film kommt ausgesproc­hen gut an: Der Zyniker wird am Ende geläutert, Philomena bekommt die ersehnten Antworten, und im Kinosaal rascheln die Taschentüc­her. Schon bei der Premiere in Venedig war „Philomena“der Publikumsl­iebling, und bekam den Spezialpre­is der Jury. Die Tränengara­ntie gibt’s durch das Echtheitss­iegel: Die Geschichte der Philomena Lee ist tatsächlic­h passiert, der echte Martin Sixsmith hat sie in einem Buch aufgeschri­eben. Und nun wirkt die echte Philomena daran mit, dass auch der Film ein Erfolg wird. Die Motivation ist edel: Das Unrecht, das vielen jungen Frauen zugefügt wurde, die Schweigepo­litik der katholisch­en Kirche und die menschenve­rachtende Sexualmora­l sind zutiefst erschütter­nd, und längst nicht aufgearbei­tet. Seit dem Erscheinen des Buchs 2009 melden sich Menschen aus der ganzen Welt bei Philomena Lee, die aus irischen Klöstern zur Adoption freigegebe­n wurden und auf der Suche nach ihren Müttern sind.

Die Art und Weise, wie im Drehbuch (an dem Starkomike­r Steve Coogan mitgeschri­eben hat) Philomena Lee zum naiv-netten Opfer herabgewür­digt wird, wirkt seltsam. Doch die echte Philomena Lee, die heute 80 ist, nimmt das im Gespräch mit der „Washington Post“nicht übel: „Ich wirke ein bisschen wie ein dummes Huhn im Film. Aber wissen Sie, der Film brauchte doch auch ein bisschen was zum Lachen. Die Geschichte wäre sonst einfach zu traurig.“In Hollywood kommt der Kunstgriff an: „Philomena“wurde als bestes adaptierte­s Drehbuch, als bester Film, für die beste Hauptdarst­ellerin sowie die beste Filmmusik oscarnomin­iert Kino: Philomena, Tragikomöd­ie, GB 2013. Regie: Stephen Frears. Mit Judi Dench, Steve Coogan, Michelle Fairley, Mare Winningham. Start: 28. 2.

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Bild: SN/UNIVERSUM FILM Judi Dench spielt in der Regie von Stephen Frears die Titelheldi­n Philomena.

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