Die Dancing Stars wirbeln durch die Zeit
Ungarische Geschichte im Schnelldurchlauf: Warum auch ein Stück ohneworte viel zu sagen hat
Österreichisch- GRAZ (SN). Die Kleider flattern im Wind der Drehbewegungen, was sich ändert, sind bloß die Moden in der Bekleidung und in der Musik. Walzer, Charleston, Rock, Beat, Disco, Electroswing: Der ungarische Regisseur verwandelt seine durch zwei Profitänzer ergänzten Schauspieler in Dancing Stars, die sich rhythmisch durch Zeit und Raum bewegen. Durch nonverbale Episoden und eine reiche Mimik und Gestik seiner Akteure schildert er zudem schlaglichtartig kollektive Historie aus Österreich und Ungarn sowie private Seinserfahrungen wie Liebe, Hass, Schmerz, Trauer, Lust und Ohnmacht.
Ort des „Schauspiels ohneWorte“nach einer Idee des französischen Theatre du Campagnol ist ein Ballsaal. Viktor Bodo und seine Dramaturgin Julia Robert haben basierend auf dem Stoff, der zum oscarnominierten Film „Le Bal“geführt hat, eine eigene Fassung über Beziehungsebenen jener Länder, die einst in der k. u. k. Monarchie vereint waren, erar- beitet. Im ehrwürdigen Ballsaal mit den angestaubten Spiegeln werden die Akteure eingenebelt, grell beleuchtet, mit Musik beschallt. Luster fallen zu Boden, aus Telefonen gurgelt es eigenartig, Kellner und Gäste stolpern stummfilmreif, die Realität kippt immer wieder ins Slapstick- und Traumhafte, auch ins Mysteriöse. Die Zeit tickt erbarmungslos und Bodo macht das, was er grandios beherrscht: ein Ensemble zu motivieren und eine Fülle von Geschichten erzählen zu lassen.
Die im Takt wogende Bilderflut fordert beim Publikum Mut zur Lücke ein. Wer sich etwa auf den Hausverwalter in seinem Kabäuschen konzentriert, kann die amüsanten Details einer grenzüberschreitenden Hochzeit nach dem Mauerfall – etwa die Überreichung einer „Mikrouwoulln“an die ungarischen Neoverwandten – versäumen. Und wer gebannt eine musicaltaugliche Folterszene aus der Ära des Kalten Krieges fokussiert, verliert mit Sicherheit anderes aus den Augen. Der zum Leben erweckte Ballsaal wird zur Bühne einer getanzten Geschichte, deren Eckpunkte vom alten Kaiserreich bis ins iPhone-Zeitalter und zu (angedeuteten) turbokapitalistischen Finanzmachenschaften reichen.
Dass inhaltlich manches an der Oberfläche verhandelt wird und Viktor Bodo mitunter sich selbst zitiert (man kann es auch Stil oder Kontinuität nennen), tut dem sinnlichen Tanzvergnügen kaum Abbruch. DieMacht der Uniform, die Schwäche der Starken, Einzug der Marktwirtschaft, Öffnung der Gesellschaft: Die Sprache der Körper berichtet von all diesen Facetten, Teile des Grazer Ensembles sowie die Gäste aus Ungarn (Szputnyik Shipping Company) vollbringen Höchstleistungen. Die Zeit tickt. Unerbittlich. Wann kommt der nächste Tanz?