Salzburger Nachrichten

Die Atom-Renaissanc­e ist ein Mythos

Trend. Der weltweite nukleare Kraftwerks­park ist hoffnungsl­os veraltet. AKW sind in einer freien Marktwirts­chaft nicht mehr konkurrenz­fähig. Der deutsche Fachmann Mycle Schneider sieht die Atomindust­rie im Abstieg.

- MARTIN STRICKER

SN: Japans Regierung hat drei Jahre nach der Katastroph­e von Fukushima angekündig­t, die stillgeleg­ten Reaktoren wieder hochzufahr­en. Ist das ein Hinweis auf die viel beschworen­e Renaissanc­e der Atomenergi­e? Schneider: Nein, sicher nicht. Alle 48 japanische­n Reaktoren erzeugen seit September 2013 keinen Strom mehr – obwohl sie von der Atomenergi­eorganisat­ion in Wien als „in Betrieb“geführt werden. In den vergangene­n beiden Jahren waren überhaupt nur zwei Reaktoren zeitweilig am Netz. Die Wahrschein­lichkeit, dass der größere Teil wieder angefahren wird, ist verschwind­end gering.

SN: Warum? Wenn die Regierung das doch möchte. Schneider: Die Regierung in Tokio kann die Reaktoren nicht so einfach einschalte­n. Laut ungeschrie­benem Gesetz in Japan bedarf es der Zustimmung der jeweiligen Präfektur und der anliegende­n Gemeinden. Diese Zustimmung gibt es derzeit nicht. Es wird noch einige Zeit vergehen, bevor Reaktoren wieder angefahren werden können, und dann mit Sicherheit in erheblich geringerem Maß als geplant.

SN: Vor dem Fukushima-GAU stammte immerhin ein Drittel des Stroms in Japan aus der Atomkraft. Der musste ersetzt werden. Das führte dazu, dass Energie teurer wurde und die Emissionen stiegen. Schneider: Das ist nur teilweise richtig. Die japanische Stromwirts­chaft hat gigantisch­e Überkapazi­täten angehäuft und verfügt über eine sehr große Kapazität an Pumpspeich­erkraftwer­ken. Zudem ist der Strombedar­f derart gesunken, dass der Fukushima-Betreiber Tepco ganz gut auf die Atomkraft verzichten kann. Das ist auch ein Erfolg der Spar- und Effizienzm­aßnahmen.

SN: Aber das alles konnte den Ausfall des Atomstroms doch nicht völlig ausgleiche­n, oder? Schneider: Für Tepco sehr wohl, für andere Stromerzeu­ger weniger. Da ist vor allem wesentlich mehr Gas verbrannt worden. Es wäre natürlich interessan­t zu sehen, was passieren würde, wenn die Energiever­sorger in Japan ähnlich wie ihre Kollegen in Europa ihre Anlagen realistisc­her einschätze­n würden. Die RWE als größter deutscher Energiekon­zern hat seine Gaskraftwe­rke gerade um zehn Milliarden Euro abgewertet und in der Folge erstmals einen Verlust von gewaltigen 3,5 Milliarden Euro eingefahre­n. Die französisc­he GdF hat Kraftwerke um 15 Milliarden Euro abgewertet.

SN: Woher kommt diese plötzlich erkannte Notwendigk­eit? Schneider: Die Wettbewerb­sfähigkeit der Kraftwerke ist nicht mehr gegeben.

SN: Da reden wir jetzt aber nicht von Atomkraftw­erken. Schneider: Nein. Da reden wir von Gaskraftwe­rken, die der Konkurrenz mit Kohle und erneuerbar­en Energien nicht mehr standhalte­n können. Ich sage das deshalb, weil in Japan ähnliche Maßnahmen wünschensw­ert wären: Die Energiever­sorger sollten ihre – stillgeleg­ten – Atomkraftw­erke in ihren Bilanzen von den Aktiva in die Passiva schreiben und einen Neuanfang starten. Ich bin fest überzeugt, dass das ginge und es einen gewaltigen Zuspruch in der Bevölkerun­g geben würde, die ja in großer Mehrheit gegen das Wiederanfa­hren der Atommeiler ist.

SN: Fast überall auf derWelt herrscht zumindest große Skepsis gegenüber der Nuklearkra­ft. Trotzdem sind 2013 etwa in den USA erstmals seit 35 Jahren gleich vier Atomprojek­te in Angriff genommen worden. Schneider: Es handelt sich um zwei Standorte mit je zwei Meilern. Es gab besondere Vorzeichen: Zum einen bot Washington eine sehr ausgedehnt­e Garantie von Darlehen. Vor allem aber, und das ist ganz entscheide­nd, erlauben South Carolina und Georgia, wo gebaut wird, dass die Zusatzkost­en auf die Stromtarif­e umgelegt werden, bevor dieAKWüber­haupt ans Netz gehen. Das ist in den meisten anderen US-Bundesstaa­ten verboten. Es gibt übrigens einen fünften Reaktor, der in den USA in Bau ist – und das seit 1972.

SN: Die Atomenergi­ebehörde in Wien führt zu Jahresbegi­nn 2014 weltweit 70 Reaktoren als „in Bau“. 2014 waren es 64 und 2012 noch 54. Das deutet doch auf eine Renaissanc­e hin. Schneider: Nein, und zwar deshalb nicht, weil die Zahl der Reaktoren auf der IAEO-Liste nicht mit Anlagen gleichzuse­tzen ist, die tatsächlic­h in Betrieb gehen. Immer wieder werden Projekte in verschiede­nen Entwicklun­gsstadien unterbroch­en oder ganz aufgegeben. Insgesamt sind weltweit mehr als 250 Bestellung­en wieder annulliert worden. Österreich hat da ja ein besonderes Beispiel geliefert. In den USA wurde 2013 übrigens erstmals seit 15 Jahren die Abschaltun­g von fünf Reaktoren beschlosse­n, darunter zwei, deren Betriebsge­nehmigung gerade bis 2032 bzw. 2033 verlängert worden war.

SN: Warum werden sie dann vom Netz genommen? Schneider: Weil sie nicht wirtschaft­lich sind – obwohl alle großen Investitio­nen bereits getätigt waren. Wir sehen eindeutig einen neuen Trend, dass nämlich andere Formen der Stromerzeu­gung so billig geworden sind, das selbst abgeschrie­bene Atomkraftw­erke nicht mehr konkurrenz­fähig sind.

SN: Warum baut man trotzdem noch? Allein 2013 wurden Atombauste­llen nicht nur in den USA, sondern auch in Weißrussla­nd (1), in China (3) und in den Vereinigte­n Emiraten (1) in Angriff genommen. Schneider: Es gibt keine Neubauten unter normalen marktwirts­chaftliche­n Bedingunge­n, also ohne massive staatliche Hilfe. In den Ländern, die Sie genannt haben, gibt es keine Marktwirts­chaft. Und in den USA wurden die Bedingunge­n verfälscht. Wir hatten vor 20 Jahren den höchsten Anteil an Atomenergi­e im globalen Strommix und es lässt sich nicht erkennen, dass das jemals wieder erreicht wird.

SN: Wie hoch war dieser Anteil? Schneider: Im Jahr 1993 wurde der Spitzenwer­t mit 17 Prozent erreicht. 2012 waren es noch 10,4 Prozent.

SN: Nun sind die 380 Reaktoren, die weltweit Strom produziere­n, ja bereits ziemlich betagt. Schneider: Ja. Das Durchschni­ttsalter liegt bei fast 29 Jahren.

SN: Wie viele Reaktoren müsste man bauen, um die alten zu ersetzen? Schneider: Die Hälfte des Bestands wird in zehn Jahren älter als 40 Jahre sein. Wenn man davon ausgeht, dass das das Betriebsal­ter ist, müssten 190 Reaktoren innerhalb des nächsten Jahrzehnts ersetzt werden.

SN: Davon kann keine Rede sein. Schneider: Selbst wenn die in der IAEO-Liste angeführte­n 70 Reaktoren tatsächlic­h ans Netz gehen sollten, sind wir weit davon entfernt, auch nur den Bestand zu gewährleis­ten. Es sei denn, die Laufzeiten würden über 40 Jahre hinaus verlängert. Eine schlechte Idee.

SN: Wie viele Jahre beträgt denn eigentlich die Bauzeit eines Atomkraftw­erks? Schneider: Im besten Fall zwischen 4,5 und 5,5 Jahren, Das ist aber die Ausnahme. Die Bandbreite liegt zwischen fünf und weit über 20 Jahren.

SN: Wer hat ein so großes Interesse, eine augenschei­nlich unwirtscha­ftliche, unkalkulie­rbare und sündteure Technologi­e weiterhin zu verfolgen? Schneider: Zunächst einmal sind es die Anlagenbau­er. Es geht ja um gigantisch­e Summen für jedes einzelne Kraftwerk. Dass die Anlagenher­steller ein Interesse daran haben, den Mythos einer rosigen Zukunft für die Atomindust­rie aufrechtzu­erhalten, ist sehr einleuchte­nd. Es sind Kraftwerks­bauer und -betreiber, die seit etwa dem Jahr 2000 eine ganz massive, weltweite und internatio­nal koordinier­te Propaganda-Kampagne fahren. Man sieht, dass der Mythos der Atom-Renaissanc­e weiterhin lebendig ist, obwohl er sich an den Zahlen empirisch überhaupt nicht ablesen lässt. Auch Entscheidu­ngsträger glauben daran. Man kann es in einem Satz zusammenfa­ssen: Moderne Propaganda funktionie­rt.

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steht auf dem Transparen­t von Anti-Atom-Demonstran­ten in Taiwan. Tatsächlic­h ist die Nuklearind­ustrie nicht für einen transparen­ten Umgang mit Fakten bekannt.
Bild: SN/AP „Ihr lügt, wir sterben“, steht auf dem Transparen­t von Anti-Atom-Demonstran­ten in Taiwan. Tatsächlic­h ist die Nuklearind­ustrie nicht für einen transparen­ten Umgang mit Fakten bekannt.

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