Salzburger Nachrichten

Fürsorgepf­licht für die Opfer

Versagen. Wenn der Staat es nicht schafft, sich schützend und fördernd vor das Leben der Opfer von Straftaten zu stellen, hat er versagt.

- Rechtsanwa­lt in Wien

Jahrzehnte­lang wurde um die Verbesseru­ng der Rechtsstel­lung des Opfers im Strafverfa­hren gekämpft. Es wurde letztlich auch viel erreicht. Doch in jüngster Zeit entstand – etwa bei den Strafverte­idigern – mitunter der Eindruck, bei den Opferrecht­en hätten sich „Fehlentwic­klungen“ergeben.

Weshalb gibt es Opferrecht­e, worauf zielen diese ab?

Opferrecht­e finden sich schon im Gesellscha­ftsvertrag. Nach Hobbes, Rousseau und Bodin schließen sich Menschen für Freiheit, Schutz und Verteidigu­ng in Gesellscha­ften zusammen. Im Jahr 2010 meinte der deutsche Bundesgeri­chtshof (1 StR 554/09) in einem Urteil, dass für den Staat die Pflicht besteht, „sich schützend und fördernd vor das Leben potenziell­er Opfer zu stellen und deren Leben [. . .] vor rechtswidr­igen Eingriffen von Seiten anderer zu bewahren“.

Damit zeigt er, wie aktuell die alten Erkenntnis­se dieser Philosophe­n sind. Freilich ist es unmöglich, jede Straftat zu verhindern. Gegen den Gesellscha­ftsvertrag hat der Staat aber Menschen gegenüber verstoßen, die Opfer einer Straftat wurden. Er hat versagt! Genau deswegen lösen Straftaten eine Fürsorgepf­licht des Staates aus. Im Nachhinein hat er sicherzust­ellen, dass Opfer geschützt und geschont werden, am Verfahren mitwirken können.

Opfer werden durch Straftaten traumatisi­ert und psychisch belastet. Man spricht von primärer Viktimisie­rung, also der Opferwerdu­ng durch die Straftat selbst, und es kommt zu Ängsten, Stress, Aggression­en, Wut, Trauer, Scham, auch Sicherheit­sgefühle gehen verloren oder Bedrohthei­tsgefühle erhöhen sich. Meist bleibt es dabei aber nicht. Inadäquate Reaktionen von Strafverfo­lgungsbehö­rden, des sozialen Umfelds oder der Medien können zur sekundären Viktimisie­rung führen. Hier geht es um Gefühle der Ohnmacht und des Kontrollve­rlusts, wenn die Mühlen der Justiz ins Mahlen kommen, um Verunsiche­rung oder das sogenannte „blaming the victim for the crime“. Es ist kaum vorstellba­r, welche Tortur es für Verbrechen­sopfer bedeuten kann, Pflichten in Strafverfa­hren nachkommen und mit ihrem sozialen Umfeld fertig werden zu müssen.

Schließlic­h kann sogar tertiäre Viktimisie­rung auftreten und Betroffene nehmen die Opferrolle in ihr Selbstbild, ihre Persönlich­keit auf, verlieren Selbstwert und Selbstacht­ung. Geprägt ist tertiäre Viktimisie­rung von Gefühlen der Hilflosigk­eit, des Ausgeliefe­rtseins und kann sich durch ständiges und unangebrac­htes „SichAnpass­en“, erhöhte Gereizthei­t, laufenden Stress oder depressive Symptome ausdrücken.

Hier haken Opferrecht­e ein. Sie schützen vor sekundärer und tertiärer Viktimisie­rung. Es ist also ein verbreitet­es Missverstä­ndnis, dass durch sie archaische Zwecke wie „Rache“(„Mein ist die Rache, spricht der Herr“) verrechtli­cht werden sollten. Durch sie sollen auch keine Verurteilu­ngsraten oder Strafen erhöht werden.

Opferrecht­e sollen sicherstel­len, dass Betroffene jene wirtschaft­liche und psychische Situation wiedererla­ngen, wie sie vor der Tat bestanden hat, und Betroffene dabei unterstütz­en, ihren „Opferstatu­s“so rasch wie möglich zu überwinden.

Wiewohl für Opfer viel passiert ist, besteht Handlungsb­edarf. Udo Jesionek, Präsident des Weißen Rings, hebt hervor, dass das Recht auf psychosozi­alen und rechtsanwa­ltlichen Beistand auf alle traumatisi­erten Opfer und auch auf zivilrecht­liche Verfahren ausgeweite­t werden sollte. Gerade bei Rechtsbehe­lfen gegen bloßstelle­nde und sensations­gierige mediale Berichters­tattung ist Hilfe dringend geboten. Außerdem sollte kein psychisch belastetes Opfer neben Angeklagte­n aussagen müssen und letztlich bedarf es eines Verbrechen­sopfervors­chussgeset­zes für rasche finanziell­e Unterstütz­ung.

Kriminalpo­lizei, Staatsanwa­ltschaft und Strafgeric­hte haben die Bedürfniss­e von Opfern mittlerwei­le weitgehend anerkannt und berücksich­tigen diese bei Entscheidu­ngen immer mehr. Dennoch gilt es, die Position von Opfern in Strafverfa­hren zu verbessern. Wahrnehmen sollte man diese Aufgaben als Maßnahmen zur Verbesseru­ng der Lebenssitu­ation von Menschen, die häufig zumindest zeitweise zu den Schwächste­n zählen.

Freilich muss immer darauf geachtet werden, dass Rechte von Beschuldig­ten und Angeklagte­n dadurch nicht ungebührli­ch eingeschrä­nkt werden. Immerhin sind sie es, denen durch Strafverfa­hren massivste Eingriffe in ihre Freiheitsr­echte drohen. Ein Risiko, das trotz Bekenntnis zum Opferschut­z und der Überzeugun­g von der Unabhängig­keit der Justiz mitbedacht werden muss.

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ING. DR. WOLFGANG GAPPMAYER,

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