Salzburger Nachrichten

EineTotenf­eier öffnet neue Dimensione­n

Sechs Stunden dauert dieses filmische Monumental­epos. Sieben Jahre lang hat sein Schöpfer daran gearbeitet. Welchen Maßstab legt man an Matthew Barneys „River of Fundament“?

- JÖRN FLORIAN FUCHS

Überwältig­ungstheate­r. MÜNCHEN (SN). Um halb neun Uhr abends begann der von zwei sehr knappen Pausen unterbroch­ene Marathon, beim Hinaustret­en in die milde Münchner Frühlingsl­uft schlug es schon halb drei. Doch die Nachtwache lohnte sich. Denn was der amerikanis­che Künstler Matthew Barney in siebenjähr­iger Arbeit kreiert hat, sprengt sämtliche Maßstäbe hinsichtli­ch Aufwand, Erzählstru­ktur, aber auch Toleranz der Geschmacks­nerven.

„River of Fundament“bezieht sich sehr frei auf Norman Mailers Roman „Ancient Evenings“, ein Mammutwerk, das zwischen ägyptische­m Totenkult und derber Obszönität schwankt. Mailer selbst empfahl es Matthew Barney zur Lektüre. Der Autor starb kurze Zeit später, und Barney schuf eine eigenwilli­ge Hommage, die ebenso reale Totenfeier wie surreale Meditation ist.

Matthew Barney baute Mailers New Yorker Wohnung detailgetr­eu nach und inszeniert in ihr zunächst eine Cocktailpa­rty mit illustren Gästen, Autoren wie Jeffrey Eugenides oder Salman Rushdie schauen auf ein Gläschen vorbei und reden über den Verstorben­en. Es wird diskutiert im überkandid­elten Jargon der New Yorker Upper Class, das wirkt dann oft wie eine Seifenoper mit einer Prise Woody Allen.

Auf einmal beginnen ein paar Gäste zu singen, man hört Gospelhaft­es, dann Geräusche à la Helmut Lachenmann, dann wuchtige Klagekläng­e. Jonathan Bepler hat die Musik zu „River of Fundament“geschriebe­n. Sie wird zum integralen Bestandtei­l des Ganzen. Bepler ist hörbar mit allen Wassern der Avantgarde gewaschen, er verwebt furios „indigene“Texturen (die an Schamaneng­esänge erinnern) mit penibel auskomponi­erten Schreiatta­cken und zartesten Melismen. Dazu kommen Industriel­ärm und alltäglich­e Geräusche, wobei die Grenze zwi- schen Kunst und Realität, Gemachtem und bloß Aufgezeich­netem häufig unklar bleibt.

Von der Séance im Hause Mailer führt uns Barney immer wieder in unglaublic­he Dimensione­n, er selbst streift als mit Fäkalien verklebtes­Wesen durch verdreckte Flüsse und die Kanalisati­on und vollzieht eigenartig­e Rituale. Dabei spielen vor allem Körperflüs­sigkeiten eine Rolle. Harter Kot wird in Goldfolie verpackt, flüssiger Stuhl mit einem Schlauch abgepumpt, man sieht auch etliche Geschlecht­steile in Aktion. Barney geht es jedoch nicht um Provokatio­n, für ihn sind die Körpersäft­e Mittel zum Zweck – und der heißt Transforma­tion. Hinter allem steckt und über allem schwebt ein Reinkarnat­ionsgedank­e.

Das Gigantoman­ische in Theorie und Praxis, verbunden mit einem sehr privaten Mythenuniv­ersum, aber auch sehr zugänglich­en, eindringli­chen Bildern, das ergibt Barneys „River of Fundament“, ein so wohl noch nicht da gewesenes Überwältig­ungstheate­r.

Der Film läuft im Mai im Programm der Wiener Festwochen, das Münchner Haus der Kunst bietet derzeit eine Ausstellun­g mit einigen voluminöse­n Skulpturen, die jenseits der Leinwand aber recht harmlos und ziemlich rätselhaft wirken.

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Bild: SN/HAUS DER KUNST/WINGET Über allem schwebt ein Reinkarnat­ionsgedank­e: ein Bild aus dem Film „River of Fundament“. Nach der Europa-Premiere in München kommt er im Mai zu den Wiener Festwochen.

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