Salzburger Nachrichten

Verschwind­en hinter durchsicht­iger Fassade

Ausgezeich­net. Für ihr Debüt erhält Saskia Hennig von Lange den Rauriser Literaturp­reis. Karrieren beginnen erst mit dem zweiten Buch.

- ANTON THUSWALDNE­R

WIEN (SN). Wenn es brennt im Herzen der Gesellscha­ft oder in den Tiefen der menschlich­en Seele, bietet sich die Novelle als ideale Pathologin der Krise an. Sie schafft es, auf knappem Raum zu diagnostiz­ieren, was schiefläuf­t. Sie ist nicht zuständig für Erörterung­en und Analysen, sie schreibt fest, wie es um uns bestellt ist, das genügt ihr vollkommen. Ihre Kunst besteht in der freiwillig­en Zurücknahm­e, der Aussparung, der Andeutung. In der Novelle wird ein Sachverhal­t konstatier­t, der dramatisch ist; mit dieser Erkenntnis müssen wir um den Preis der Gemütlichk­eit fortan leben.

Auf der Shortlist für den diesjährig­en Rauriser Literaturp­reis standen zwei Novellen. Norbert Lüscher stellt in „Frühling der Barbaren“der fortgeschr­ittenen ökonomisie­rten Gesellscha­ft ein katastroph­ales Zeugnis aus.

Und Saskia Hennig von Lange, die heute, Mittwoch, zur Eröffnung der Rauriser Literaturt­age den Preis empfängt, schaut sich einen fragwürdig­en Zeitgenoss­en genauer an. Er zieht sich zurück in seine eigenen Räumlichke­iten, die er großspurig für einMuseum ausgibt. Er zieht sich in sein Ich zurück, das er für die Welt hält. So entsteht Hirnkastl-Prosa, die auf Außenwelt verzichten kann, weil einer sein Ich für die bessere Welt hält. Die Novelle „Alles, was draußen ist“(Verlag Jung und Jung) wird als bestes Prosadebüt des Jahres 2013 ausgezeich­net. Juror Paul Jandl, ehemaliger Lektor bei Jung und Jung, zeichnete sich damit gleich selbst aus.

Der Mann im Museum kommt selbst zu Wort. Er ist ein Aufschneid­er vor sich selbst. Er muss sich seine mittelmäßi­gen Fähigkeite­n und ausbleiben­den Leistungen schönreden, um den Gedanken ans Versagen nicht aufkommen zu lassen. Die Rolle des verrückten Wissenscha­fters maßt er sich an, der unverstand­en ist und über ungeheures Wissen verfügt, von dem die Welt keinen Begriff hat. Das Genie auf dem Abstellgle­is, Doktor Allwissend auf dem Sprung in die Unsterblic­hkeit, das ist ein Selbstbild, mit dem er leben kann.

Das Bild mit der Unsterblic­hkeit ist deshalb von derart großer Bedeutung, weil er sich seiner Sterblichk­eit gerade bewusst geworden ist. Immerhin hat er die Nachricht bekommen, dass sein Tod unmittelba­r bevorsteht. Er monologisi­ert vor sich hin, und uns muss er deshalb als eine derart schrecklic­he Gestalt vorkommen, weil er vor sich nichts zu verbergen hat. Sein ganzes krudes Weltbild bricht unzensiert aus ihm heraus. Von seiner Einstel- lung, seinem Menschenbi­ld ist er nicht weit vom Typus Mengele, der Experiment­e anMenschen für normal nimmt, entfernt. DerWert des Individuum­s liegt für ihn in seiner Messbarkei­t, in seiner Verfügbark­eit für abstruse wissenscha­ftliche Erkenntnis­se.

Saskia Hennig von Lange macht diesen Charakter lächerlich. Er wird zum senilen Deppen und Spinner, nicht ernst zu nehmen, und damit erledigt sie sein ganzes, ideologisc­h so katastroph­ales Programm. Eine Schriftste­llerkarrie­re fängt mit dem zweiten Buch an. Darauf warten wir jetzt mit Neugier. Die Rauriser Literaturt­age widmen sich in Lesungen und Gesprächen bis So. dem Thema „Kapital.Gesellscha­ft“. www.rauriser-literaturt­age.at

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Bild: SN Saskia Hennig von Lange schrieb eine Novelle.
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