Verschwinden hinter durchsichtiger Fassade
Ausgezeichnet. Für ihr Debüt erhält Saskia Hennig von Lange den Rauriser Literaturpreis. Karrieren beginnen erst mit dem zweiten Buch.
WIEN (SN). Wenn es brennt im Herzen der Gesellschaft oder in den Tiefen der menschlichen Seele, bietet sich die Novelle als ideale Pathologin der Krise an. Sie schafft es, auf knappem Raum zu diagnostizieren, was schiefläuft. Sie ist nicht zuständig für Erörterungen und Analysen, sie schreibt fest, wie es um uns bestellt ist, das genügt ihr vollkommen. Ihre Kunst besteht in der freiwilligen Zurücknahme, der Aussparung, der Andeutung. In der Novelle wird ein Sachverhalt konstatiert, der dramatisch ist; mit dieser Erkenntnis müssen wir um den Preis der Gemütlichkeit fortan leben.
Auf der Shortlist für den diesjährigen Rauriser Literaturpreis standen zwei Novellen. Norbert Lüscher stellt in „Frühling der Barbaren“der fortgeschrittenen ökonomisierten Gesellschaft ein katastrophales Zeugnis aus.
Und Saskia Hennig von Lange, die heute, Mittwoch, zur Eröffnung der Rauriser Literaturtage den Preis empfängt, schaut sich einen fragwürdigen Zeitgenossen genauer an. Er zieht sich zurück in seine eigenen Räumlichkeiten, die er großspurig für einMuseum ausgibt. Er zieht sich in sein Ich zurück, das er für die Welt hält. So entsteht Hirnkastl-Prosa, die auf Außenwelt verzichten kann, weil einer sein Ich für die bessere Welt hält. Die Novelle „Alles, was draußen ist“(Verlag Jung und Jung) wird als bestes Prosadebüt des Jahres 2013 ausgezeichnet. Juror Paul Jandl, ehemaliger Lektor bei Jung und Jung, zeichnete sich damit gleich selbst aus.
Der Mann im Museum kommt selbst zu Wort. Er ist ein Aufschneider vor sich selbst. Er muss sich seine mittelmäßigen Fähigkeiten und ausbleibenden Leistungen schönreden, um den Gedanken ans Versagen nicht aufkommen zu lassen. Die Rolle des verrückten Wissenschafters maßt er sich an, der unverstanden ist und über ungeheures Wissen verfügt, von dem die Welt keinen Begriff hat. Das Genie auf dem Abstellgleis, Doktor Allwissend auf dem Sprung in die Unsterblichkeit, das ist ein Selbstbild, mit dem er leben kann.
Das Bild mit der Unsterblichkeit ist deshalb von derart großer Bedeutung, weil er sich seiner Sterblichkeit gerade bewusst geworden ist. Immerhin hat er die Nachricht bekommen, dass sein Tod unmittelbar bevorsteht. Er monologisiert vor sich hin, und uns muss er deshalb als eine derart schreckliche Gestalt vorkommen, weil er vor sich nichts zu verbergen hat. Sein ganzes krudes Weltbild bricht unzensiert aus ihm heraus. Von seiner Einstel- lung, seinem Menschenbild ist er nicht weit vom Typus Mengele, der Experimente anMenschen für normal nimmt, entfernt. DerWert des Individuums liegt für ihn in seiner Messbarkeit, in seiner Verfügbarkeit für abstruse wissenschaftliche Erkenntnisse.
Saskia Hennig von Lange macht diesen Charakter lächerlich. Er wird zum senilen Deppen und Spinner, nicht ernst zu nehmen, und damit erledigt sie sein ganzes, ideologisch so katastrophales Programm. Eine Schriftstellerkarriere fängt mit dem zweiten Buch an. Darauf warten wir jetzt mit Neugier. Die Rauriser Literaturtage widmen sich in Lesungen und Gesprächen bis So. dem Thema „Kapital.Gesellschaft“. www.rauriser-literaturtage.at