Erdogan droht seinen Kritikern
Polarisierung. Der türkische Premier sieht sich durch die Kommunalwahlen gestärkt und will jetzt verschärft gegen politische Gegner vorgehen.
ISTANBUL (SN, n-ost). Am Montag wurden in einigen Wahllokalen die letzten Stimmzettel noch ausgezählt, und Vorwürfe über Unregelmäßigkeiten und Manipulationen machten die Runde, wie immer nach türkischen Wahlen. Aber an Erdogans Wahlerfolg gab es nichts zu deuteln: Im Landesdurchschnitt kam seine Partei auf rund 45,5 Prozent der Stimmen. Das ist zwar weniger als die fast 50 Prozent, die Erdogan bei der letzten Parlamentswahl 2011 erzielte, aber zugleich deutlich mehr als bei der Kommunalwahl 2009. Damals kam die AKP auf knapp 39 Prozent.
Noch in der Wahlnacht erklärte Erdogan in Istanbul vor Tausenden jubelnden Anhängern seinen „großen Sieg im Kampf für die Freiheit der neuen Türkei“. Erdogan rief: „77 Millionen Türken sind vereint als Brüder.“
Doch der Versuch der Premiers, die Hand zu seinen Kritikern auszustrecken, wirkte vor dem Hin- tergrund der Zerrissenheit des Landes wenig überzeugend. Gerade Erdogan hatte im Wahlkampf bewusst auf eine scharfe politische Polarisierung gesetzt und seine Gegner angefeindet.
Jetzt droht der Premier seinen Widersachern: „Das Volk hat ihre hinterhältigen Pläne und unmoralischen Fallen durchkreuzt – sie werden dafür zahlen!“
Hinter den Korruptionsvorwürfen und den kompromittierenden Mitschnitten abgehörter Telefonate, die seit Wochen über das Internet verbreitet wurden, vermutet Erdogan die Bewegung des islamischen Reform-Predigers Fethullah Gülen, eines früheren Verbündeten, mit dem er sich überworfen hat.
Erdogan wirft Gülen vor, er wolle aus seinem Exil im US-Bundesstaat Pennsylvania den türkischen Staat unterwandern. „Es wird keinen Staat im Staate geben“, rief Erdogan vor seinen Anhängern in der Wahlnacht, „die Zeit ist gekommen, sie auszumerzen“. Diese Kampfansage an Gü- len lässt eine weitere Verhärtung der innenpolitischen Fronten erwarten.
Den meisten Anlegern scheint das keine Sorgen zu machen. Sie erwarten offenbar Stabilität und Kontinuität. Die Lira konnte am Montagmorgen gegenüber dem Dollar um 1,2 Prozent zulegen, die Aktien- und Anleihekurse am Bosporus stiegen ebenfalls.
Erdogans AKP hat seit 2002 alle Wahlen gewonnen, und zwar mit stets steigenden Stimmenanteilen. Ihr größter Trumpf war die gute Entwicklung der türkischen Wirtschaft. Unter Premier Erdogan hat sich die Kaufkraft der Durchschnittsfamilie verdoppelt. Dass der Partei trotz der Korruptionsvorwürfe keine dramatischen Stimmenverluste drohten, war deshalb schon vor der Wahl abzusehen. Aber die deutlichen Stimmengewinne im Vergleich zur Kommunalwahl 2009 haben selbst viele im Regierungslager angenehm überrascht.
Umso gedrückter ist die Stimmung in den Reihen der Opposi- tion. Die Republikanische Volkspartei (CHP) kam landesweit auf etwa 28 Prozent. Das sind zwar rund fünf Prozentpunkte mehr als 2009. Aber ihr Ziel, der AKP die Rathäuser in den beiden größten Städten des Landes, Istanbul und Ankara, abzunehmen, hat die Partei verfehlt. Nach den Auszählungsergebnissen vomMontag hat die CHP sogar ihre bisherige Hochburg Antalya an die AKP verloren.
Viel Zeit, neue Kräfte zu sammeln, hat die Opposition nicht. Denn die Türkei bleibt im Wahlkampfmodus. Das Interesse richtet sich nun auf den 10. August. Dann bestimmen die Türken erstmals in direkter Wahl ihren Staatspräsidenten. Noch ist offen, ob der gegenwärtige Amtsinhaber Abdullah Gül noch einmal antritt oder verzichtet. Aber Erdogan hat bereits vor Monaten sein Interesse am höchsten Staatsamt bekundet. Mit dem Triumph bei der Kommunalwahl hat er diesen Anspruch am Sonntag noch einmal deutlich unterstrichen.