EinAuge zudrücken beim Blick auf Chinas Regime
Nobelpreisträger. Mo Yan erzählt vom Leben im kommunistischen China. Doch wie vertragen sich Literatur und Kompromisse?
SALZBURG (SN). ImJahr 1969 sah es nicht gut aus für den kleinen Mo Yan, den späteren Nobelpreisträger. Er war dreizehn Jahre alt, war der Schule verwiesen und hatte keine Zukunft vor sich. Überhaupt porträtiert sich der Erwachsene im Rückblick von Jahrzehnten als Unglücksrabe: „Von klein auf war ich nichtswürdig, hatte immer Pech, machte mich mit unüberlegten Kommentaren zum Narren und wurde nicht selten Opfer meiner eigenen Bauernschlauheit“, schreibt er in seinem nun auf Deutsch erschienenen Buch, in dem er von seiner Jugend, den Hindernissen im Beruf und vom Leben unter dem kommunistischen Regime erzählt.
Der 13-Jährige drückt sich auf dem Schulhof herum, wird regelmäßig vertrieben, allmählich geduldet. Der junge Mo ist zum Beobachten verdammt. Sein Schicksal, scheint es, ist besiegelt, ein Verlierer, auf dem die anderen wohl herumtrampeln werden.
Und die anderen? He Zhiwu ist auch so einer, der nur Häme erfährt. In einem Aufsatz schreibt er über seine Erwartungen an die Zukunft: „Ich habe nur einen einzigen Traum! Und das ist: Ich möchte Lu Wenlis Papa sein.“Wie? Der Papa einer Mitschülerin? Er macht sich zum Gespött der Schüler, zum Hassobjekt des Lehrers. Er verkehrt die Niederlage in einen Triumph und verlässt erhobenen Hauptes die Schule. Jetzt wird er bewundert, aber auch ihm scheint die Zukunft wegzubrechen.
Wer ist diese Lu Wenli, dessen Vater der Jugendliche gern wäre? Sie geht als Schönheit durch, doch vor allem bekommt sie Glanz durch ihren Vater, den Lastwagenfahrer, ein Traumberuf damals, 1969, in China.
Die Verhältnisse sind geklärt, die Figuren, deren Weg Mo Yan jetzt verfolgt, sind knapp vorgestellt. Am Ende sehen die Verhältnisse vollkommen anders aus, und das ist der historischen Entwicklung geschuldet. He Zhiwu, der Verhöhnte, bringt es zu Wohl- stand. Zu Zeiten Maos war sein Schicksal fest gefügt. Er gehörte zu den Verfemten. Viele Jahre später, China hat sich der kapitalistischen Marktwirtschaft geöffnet, schafft er es, weil er rasch auf die neuen Verhältnisse reagiert. Das schöne Mädchen von ehemals, das Glückskind, heiratet einen Parteifunktionär, einen gewalttätigen Säufer, der sich auf seinemMotorrad umbringt. Jetzt heiratet sie den früheren Lehrer, den sie immer für widerlich gehalten hat. Mo Yan selbst geht zur Armee, beginnt zu schreiben, hat Erfolg, darf studieren.
Was lernen wir daraus? Die Mächtigen und Stolzen stürzen, die Underdogs schaffen den Aufstieg. Würde Mo Yan das auf dem Hintergrund der politischen Verhältnisse deutlich machen, hätten wir einen aufregend starken Text. Aber ihn hat der Mut verlassen. Politische Daten stehen höchstens als Wegmarken im Raum, sie bedeuten nichts für die Menschen. Das Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens? „Aber es dauerte nicht lange, und die Studentenunruhen begannen. Die Lage spitzte sich zu.“Kein Wort mehr. Die Verhältnisse unter Mao, die Disziplinierungskampagnen an Schulen etwa, die MoYan, der Literaturnobelpreisträger von 2012, hautnah erfahren hat? Mildtätiges Schweigen.
Das überrascht, zumal sich er, sobald er in die Geschichte Chinas zurückgeht, jede Rücksichtnahme auf ein empfindliches Publikum versagt. Kritik an den historischen Verhältnissen übt er unnachsichtig und bleibt bei allen Grausamkeiten im Namen der Politik hart dran. Das China zu seinen Lebzeiten aber sieht harmlos aus. Literatur und Kompromisse vertragen sich schlecht. Das ist hier nachzulesen.
Buch: Mo Yan, Wie das Blatt sich wendet – Eine Erzählung aus meinem Leben. Übersetzung Martina Hasse, Hanser.