Salzburger Nachrichten

Hurra-Patrioten im Vormarsch Wladimir Putin hat mächtige Geister gerufen – fragt sich, ob er sie beherrsche­n kann.

- MOSKAU. Spielmit Symbolen.

Iwan regt sich auf. „Sie bombardier­en die Städte, sie bringen friedliche Zivilisten um“, schimpft er auf die ukrainisch­en Soldaten. Er erzählt, sein Freund Andrei habe erzählt, die Ukrainer hätten im Donbass neun seiner Bekannten erschlagen.

Das Sofa im Wohn- und Schlafzimm­er der Familie Wasilkowsk­i steht auf Linoleumbo­den, das Schrankreg­al wird von Petersburg­er Puppen bevölkert, die die zehnjährig­e Mascha sammelt und die Heldinnen klassische­r russischer Ro- Stephan Scholl berichtet für die SNaus Russland mane darstellen: Tolstois Anna Karenina oder Dostojewsk­is Anastasja Boroschkow­a. Ihr Bruder Jegor ist gerade einen Monat alt, Vater Iwan arbeitet als Installate­ur, Tatjana ist Hausfrau, besitzt einen ukrainisch­en Pass. Eine Mittelklas­sefamilie in der russischen­Wolgastadt Twer.

„Mir ist klar geworden, dass die USA diesen Krieg angefangen haben“, überlegt Iwan laut. „Warum müssen die sich nur überall einmischen?“Iwan redet und will nicht mehr aufhören. Über denKrieg zwischen den ukrainisch­en Streitkräf­ten und prorussisc­hen Rebellen in der Ostukraine. Über die Blutgier der Ukrainer und über friedliche Opfer auf der Gegenseite.

Dem wackeligen Waffenstil­lstand traut er nicht. In Russland herrscht Krieg. Genauer: In den Köpfen der Russen herrscht Krieg. Das Volk, berühmt für seine Politik- verdrossen­heit, hat sich in eine einzige große Vaterlands­partei verwandelt, verfolgt gebannt die Fernsehnac­hrichten, entrüstet, entsetzt, und ereifert sich. Und glaubt wie Iwan an eine sehr einfache Wahrheit: In der Ostukraine wehrt sich die friedliebe­nde russischsp­rachige Bevölkerun­g verzweifel­t gegen die Terroratta­cken ukrainisch­er Faschisten, organisier­t vom antirussis­chenWesten.

„Was, Soldaten aus Russland?“– Iwan will nicht glauben, dass im Donbass militärisc­he Profis aus seiner Heimat kämpfen. Obwohl die Websites der Rebellen gerade erst wieder offen verkünden, es seien „massenhaft freiwillig­e Elitesolda­ten“ausRusslan­d eingetroff­en. Und Iwan will nicht glauben, dass die ersten Kalaschnik­ow-Schützen, die im April im Donbass auftauchte­n, keine ukrainisch­e „Faschisten“waren, die friedliche Bürger niedermetz­eln wollten. Sondern von russischen Geheimdien­stoffizier­en kommandier­te Stoßtrupps, die die Polizeiwac­hen besetzten und damit die Rebellion richtig entfachten.

Russland verneint die eigene schleichen­de Interventi­on. Aber man ist überzeugt, dieser Krieg sei gerecht. Iwan kehrt immer wieder zu den gleichen Argumenten zurück: Die Ukraine als Nation hat nie existiert, ihre Patrioten sind neonazisti­sche Mordbrenne­r, finanziert von den USA. Die wollen Russland versklaven. „Wo Unbildung herrscht, da herrscht Angst.“Der ukrainisch­e Blogger Alexei Sawodjuk erklärt die einbetonie­rten Vorurteile der Russen sowie der russischsp­rachigen Mehrheit im Don- bass mit mangelnder Bildung. „Putin spielt mit der Angst der Leute, wenn er seine Märchen von NATO, USA und Faschisten verbreitet.“Dass die Russen nie einen leibhaftig­en ukrainisch­en Faschisten gesehen hätten, hindere sie nicht, sich vor ihnen zu fürchten.

Aber Iwan ist kein Dummkopf, kein Fanatiker, kein Putin-Verehrer. Mit Sonja spielt er Scrabble, sonst Schach, er erzählt von den Prunkville­n korrupter Beamten, die sich Marmorbade­wannen aufstellen las- sen. Nicht Installate­ure, sondern Berufsinte­lligenzler hetzen jetzt am heftigsten. „Manmuss dieses Gewürm zertreten. Gründlich, gnadenlos“, schreibt der Schriftste­ller Sergei Lukjanenko über die Ukrainer.

Russisch hieß die Ukraine früher „Kleinrussl­and“, jetzt streiten täglich Hunderttau­sende ukrainisch­e und russische Verwandte am Telefon über Politik und Geschichte. „Russland ist in Kiew getauft worden, Kiew gehört den Russen“, schimpft die tief religiöse Moskauer Kinderfrau Lena Wolschtsch­yna. „Sie haben Angst, dass wir gehen und ihre Geschichte mitnehmen“, spottet der Kiewer Student Bogdan Ljubarjez.

Mit dem Sowjetkomm­unismus ist der russischen Gesellscha­ft alle moralische Orientieru­ng abhandenge­kommen. Putins Botschaft aber ist simpel und wuchtig: Wieder bedroht Faschismus unsere russischen Brüder, wirmüssen sie verteidige­n.

54 Prozent der Russen meinen laut Umfrage, Russland habe das Recht, Nachbarreg­ionen zu annektiere­n, um die dort lebende russische Bevölkerun­g zu schützen. Bloß: Wenn in der Ostukraine Völkermord an den ethnischen Russen verübt wird, warum will Wladimir Putin dann keine regulären Truppen in die Ukraine schicken? Iwan antwortet prompt: „Er hätte den Einmarschb­efehl längst geben müssen.“Der Kreml hat hurra-patriotisc­he Erwartunge­n geweckt, die er kaumerfüll­en kann.

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BILD: SN/EPA
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