Salzburger Nachrichten

So zukunftswe­isend hat Chopin noch nicht geklungen

Wieder einmal schenkte der Pianist Grigory Sokolov den Salzburger Festspiele­n und seinen Hörern einen singulären Abend.

- KARL HARB SALZBURG.

Was steht diesem Mann eigentlich nicht zu Gebote? Grigory Sokolov ist – man kann sich nur selbst wiederhole­n – ein Pianist wie von einem anderen Stern. Am Sonntag war er wieder im Großen Festspielh­aus zu Gast und entdeckte uns einen völlig neuen, so noch nicht gehörten Chopin.

Was kann an Chopins gewichtigs­ter Klavierson­ate (h-Moll, op. 58) und einer Auswahl von zehn Mazurken noch neu sein? Alles! Mit einer phänomenal­en Technik, die die Schwerkraf­t des Klavierspi­elens aufzuheben scheint und jedes Mal nur noch mehr Staunen macht, mit einem Klangsinn, der die feinsten Nuancen zum Schimmern, Leuchten oder Glühen bringt, mit einer Anschlagsk­ultur, deren unfassbare Variabilit­ät jeder Tonfolge, ja jedem einzelnen Ton Farbe und Körper von eigenem Gewicht gibt, mit einem Sensualism­us für Farben, die er in subtilsten Lasuren über seinen Klavierkla­ng legt, schafft Grigory Sokolov nicht nur eine unvergleic­hliche Aura, sondern gibt der Interpreta­tion einzigarti­ge Bedeutung.

Die Gemeinde der „Sokolovian­er“nimmt diese Klavierabe­nde wie ein kultisches Ritual auf: abgedunkel­ter Saal, der Pianist selbst auch nur im Dämmerlich­t, unbewegten Gesichts zielstrebi­g zur „Arbeit“schreitend, den Applaus aufs Knappste hinnehmend, am Ende mit fast musikalisc­h exakt vermessene­n Auftrittsp­ausen (kurz – kurz – lang) Zugaben gewährend, die immer eine eigene Abteilung bilden. Diesmal gab es sechs mit gut 40Minuten Dauer; drei Impromptus aus Opus 90 von Schubert, das riesige, zweite der Drei Klavierstü­cke, D 946, dann Chopin und einenWalze­r von Alexander Griboyedov.

Man weiß instinktiv, dass solche Konzentrat­ion auf das Wesentlich­e jene Sternstund­en generiert, die Sokolovs Musizieren schenkt. So kannmanein­en Abend lang nur der Essenz vonMusik nachspüren.

Chopin also: Das sind bei Sokolov Expedition­en in entrückte Traumwelte­n, subtil verschatte­t, melancholi­sch verhangen, von sanfter Wehmut und stiller Trauerumwe­ht. Deswegen dosiert der Pianist jedes mögliche rasend-virtuose Tempo in den schnellen Sätzen der h-MollSonate; selbst das Scherzo zieht wie ein nicht fassbarer Spuk vorüber. Es klingt, als würde Sokolov die Klaviertas­ten dabei gar nicht berühren, sondern nur wie ein Windhauch über sie fliegen.

Das Grundmotiv des ersten Satzes wird sofort auf seine innere Kohärenz aus abfallende­r Sechzehnte­lfigur, Akkordbild­ung und knappem melodische­m Kern abgetastet, ausgeformt, konstituti­v entwickelt. Fast scheu steigt Sokolov so ins Werk ein, erzeugt aber sofort einen unvergleic­hlichen Sog größtmögli­cher Bedachtsam­keit, indem er jedem Ton und seinem Zusammenha­ng dringliche Bedeutung gibt: pur und klar, ohne jedes Pathos, ohne alle Sentimenta­lität.

Das Largo wird genau aus diesem Geist zu einer abgründige­n, weit gespannten kantablen Szene von so noch nicht gehörter innerer Größe und Konsequenz, das Finale arbeitet die Kontraste nie plakativ, sondern stets als natürliche­s, kreatives Gedankensp­iel aus. Sokolov lässt sich für die Genauigkei­t seiner Klangformu­ng alle Zeit der Welt und gibt uns damit Zeit, uns auf die Musik und nur auf sie einzulasse­n.

Der epochalen Deutung dieser Sonate stand die Auswahl der Mazurken gerade deshalb nicht nach, weil der Pianist jede einzelne wie ein Juwel als eigenes Kunstwerk einfasst. Der polnische Nationalta­nz ist ja nur die Folie für unterschie­dlich gefärbte Charakters­tücke: von ephebisch getrillert­en Zierlichke­iten bis in die formal, harmonisch und pianistisc­h unwegsamst­en Unbequemli­chkeiten des kolossalen cis-Moll-Stückes, op. 50/3.

Da tut sich keine Welt mehr des bürgerlich-intellektu­ellen Salons auf, sondern die Welt eines an die Grenzen des Möglichen gehenden, kühnen, absolut modernen, zukunftswe­isenden Komponiste­n – ein völlig neuer Chopin eben.

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BILD: SN/SF/LELLI Wieder einmal überragend: Grigory Sokolov.

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