Indiens neuer Kurs wird sichtbar
Nach 100 Tagen im Amt fällt das demonstrative Schweigen des Premiers zu einer Anti-Muslim-Kampagne auf.
Indiens konservativer PremierNarendraModi ist 100 Tage im Amt. Sowohl seine hindu-nationalistische Indische Volkspartei (BJP) als auch die Opposition ziehen eine erste Bilanz. Die BJP meint, sie habe den wirtschaftlichen Abwärtstrend gestoppt und die „politische Lähmung“beendet. Die Krise sei zu Ende. „Nun müssen wir auf der Startbahn Gas geben“, betonte Modi. Als ganz großen Erfolg preist sein Team das Projekt an, jedem Haushalt die Eröffnung eines Bankkontos zu ermöglichen. Damit werde die „finanzielle Unberührbarkeit“beträchtlicher Bevölkerungsteile beseitigt. Es sei ein entscheidender Schritt im Kampf gegen die Armut. Die Kritiker monierten, wer keinen Job habe oder von der Hand in denMund lebenmüsse, dem helfe ein Konto mit Null-Guthaben auch nicht aus der Misere.
Dass das Auslandskapital bis zu 49 Prozent in die Verteidigungsindustrie und zu 100 Prozent in die Eisenbahn – das größte staatlicheUnternehmen – investieren darf, gilt gleichfalls als Errungenschaft. Auf der Habenseite verbucht die BJP auch eine Reihe von administrativen Entscheidungen, die die Opposition als Rückschritt bewertet. So werden Infrastrukturmaßnahmen zügiger umgesetzt, jedoch auf Kosten der Umwelt. Die Naturschutzbehörde wurde geschwächt. Die Rechte der Gewerkschaften sollen beschnitten werden. „Ich habe Kommerz undMoney im Blut“, sagte Narendra Modi dieser Tage bei seinem Besuch in Japan. Apropos Außenpolitik. Hier war Modi ein nahezu unbeschriebenes Blatt. Und hier hat er auch seine schärfsten Kritiker positiv überrascht. Die Einladung an alle südasiatischenNachbarn, einschließlich Pakistan, zu seiner Amtseinführung war ein Paukenschlag. Es folgte Besuche in Bhutan und Nepal und die Visite in Japan, bei der er mit seinem Amtskollegen Shinzo Abe eine „spezielle strategische und globale Partnerschaft“aus der Taufe hob und die Zusage über Investitionen in Höhe von 35,5 Milliarden Dollar erhielt.
Am schärfsten wird der Premier an zwei Fronten attackiert: Zum einen gibt es eine unübersehbare Zentralisierung der Macht in seiner Person, wie er sie zuvor 15 Jahre lang als Chefminister des Bundesstaates Gujarat praktizierte. Alles dreht sich um ihm. Alle Entscheidungen gehen von ihm aus. Seine Gegner kritisieren diesen Stil, der so gar nicht in die demokratische Landschaft Indiens passt. Beispielsweise ordnete er an, dass am5. September zum Tag des Lehrers alle Schulen seine vomFernsehen übertragene Rede und sein Treffen mit ausgewählten Schülern zu verfolgen haben. Die Schulen haben einen Vollzugsbericht abzuliefern.
Zweiter Angriffspunkt ist Modis demonstratives Schweigen zu brisanten Äußerungen aus seiner Partei und anderer hindu-fundamentalistischer Gruppen. Dabei geht es vor allem um diemuslimische Minderheit. Ihr wird ein ominöser „Liebes-Dschihad“unterstellt, durch den leichtgläubige Hindu-Mädchen vonMuslimen verführt und zum Islam bekehrt würden. Angeblich handelt es sich umeine landesweite Verschwörung, für die es allerdings keinerlei Beweise gibt. Zu dieser Offensive religiöser Fanatiker hat der Regierungschef in 100 Tagen kein einzigesWort verlauten lassen.