So erfindet sich die ÖVP neu
Evolution statt Revolution: Bis Ende November kann jeder über Internet Vorschläge machen, was imneuen ÖVP-Programm stehen soll. Tabus gibt es keine – oder doch?
Die eine bezeichnet sich als „ÖVP-Hooligan“, die andere ruft: „Vergesst nicht auf die Frauen.“Gemeinsam ist Béatrice Wertli, Generalsekretärin derCVP, den Christdemokraten in der Schweiz, und Dorothee Bär, Vize-Generalsekretärin der CSU und Staatssekretärin in Bayern, dass sie sich kein Blatt vor dem Mund nehmen. „Wir, die Volksparteien, müssen etwas ändern, sonst wählt uns bald keiner mehr“, sagen beide sinngemäß. Daher ist es kein Zufall, dass die ÖVP diese beiden Damen zu ihrer Auftaktveranstaltung zu ihremErneuerungsprozess „Evolution Volkspartei“am Donnerstag nach Wien eingeladen hat – nebst Philipp Achammer, dem 29-jährigen Obmann der Südtiroler Volkspartei.
DennÖVP, CVP, CSU und SVP leiden wie alle Volksparteien in Europa unter Wählerschwund. Die Zahl der Wechselwähler nimmt zu, die Stammwähler sterben weg. Das lässt sich auch an den Wahlergebnissen ablesen. Aus der einstigen Großpartei ÖVP, der in den Nach- kriegsjahren noch fast 50 Prozent der Wähler ihre Stimmen gegeben haben, ist eine Mittelpartei geworden, die in Umfragen gerade einmal bei rund 20 Prozent liegt. Die CVP in der Schweiz buhlt mit mittlerweile vier Parteien um das bürgerliche Lager. Einzig die Bayerische CSU und die Südtiroler SVP können sich über satte Mehrheiten von rund 46 bzw. 52 Prozent freuen. Genau diese beiden haben jedoch in der Vergangenheit bereits damit begonnen, was die ÖVP jetzt vorhat – sich zu modernisieren.
So hat der Südtiroler Achammer bei den Kommunalwahlen 2010 eine Amtszeitbeschränkung eingeführt, um jungen Bürgermeisterkandidaten eine Chance zu geben. Bei derCSUwerden nunNetzpolitik hoch- und eine Frauenquote von 40 Prozent eingehalten. „Bei den ganzen Vorsitzenden, die uns jahrelang gesagt haben, sie würden niemanden finden, gab es dann sogar Kampfkandidaturen unter Frauen“, erzählt Dorothee Bär.
Die CSU ist nun auch das Vorbild für „Evolution ÖVP“, den Reformprozess, mit dem sich die ÖVP ins 21. Jahrhundert wagen will. Im Zentrum steht die Frage, die sich die CSU schon vor fünf Jahren stellte: „Wofür stehen wir heute?“Nicht nur Parteifunktionäre durften sie beantworten, sondern jeder, der mitreden wollte. Das Ergebnis war das neue Wahlprogramm für die Landtagswahl in Bayern 2013, bei der die CSU die absolute Mehrheit wiedererlangte. Auch beim geltendenRegierungsprogrammin Bayern wurde auf Mitbestimmung gesetzt.
Genau das haben Staatssekretär Harald Mahrer und ÖVP-Generalsekretär Gernot Blümel bei „Evolution Volkspartei“vor. „Jeder, der möchte, soll seine Ideen und Vorschläge bis 30. November auf unserer Website ( einbringen – nicht nur ÖVP-Mitglieder“, beschreibt Blümel das Prinzip. 70 „Evolutionsbotschafter“– also ÖVP-Mitglieder, die ein Anliegen haben – halten parallel in ganz Österreich Veranstaltungen ab.
Rund um Weihnachten sollen alle Einsendungen ausgewertet und – so es sich zeitlich ausgeht – anlässlich des 70-Jahr–Jubiläums der ÖVP im April 2015 als neues Parteipro- gramm und neues Parteistatut beschlossen werden. „Das Ziel ist nicht der kleinste gemeinsame Nenner, sondern die größte mögliche Vielfalt“, sagt Mahrer. Damit soll verhindert werden, dass diese Vorschläge wie früher in Schubladen verschwinden, so wie es dem Positionspapier der Perspektivengruppe von Josef Pröll passiert ist.
Tabus oder Denkverbote gebe es keine, versichern Mahrer und Blümel. Alles – angefangen vom Familienbild bis zur Bündestruktur der ÖVP – dürfe diskutiert werden. Sogar eine eigene ÖVPTeilorganisation für Migranten, wie sie die Schweizer CVP hat, schließt Blümel nicht aus.
Einer Abschaffung der Bünde, die einer Revolution gleichkäme, erteilte Parteichef Reinhold Mitterlehner jedoch bei der Auftaktveranstaltung gleich eine Absage. Es gehe um Weiterentwicklung, „nicht darum, jemanden abzuschaffen“, meinte er.
Stimmt. Sonst müsste das Motto ja „Revolution Volkspartei“heißen.