Salzburger Nachrichten

„Ich mache mir keine Illusionen“

Der neue ÖVP-Chef Mitterlehn­er verrät, wie er die Partei wieder flottbekom­men will, wie er die Regierungs­arbeit verbessern will und unter welchen Voraussetz­ungen es eine Steuersenk­ung gibt.

- ANDREAS KOLLER

Die bisherige Regierungs­arbeit war 80 Prozent Streit und 20 Prozent Konsens. Dieses Verhältnis­s müsse umgedreht werden, fordert der neue Vizekanzle­r.

Der oberösterr­eichische LH Pühringer hat es kürzlich als „unerträgli­ch“bezeichnet, dass die ÖVP bei 20Umfragep­rozent grundle. Wie wollen Sie diesen Trend umdrehen?

SN: Mitterlehn­er: Es ist für keine Partei erfreulich, wenn sie sich bei 20 Prozent bewegt, wenngleich Meinungsum­fragen nicht gerade den Härtegrad von Diamanten haben. Ich möchte jedenfalls durch die Arbeit in und mit meinem Team bewirken, dass wir auch emotional wieder stärker werden.

SN: Welches Rezept haben Sie? SN: Sie wollen also ein besseres Miteinande­r inder Regierung? SN: Sie habenBeweg­ung in der Bildungspo­litik signalisie­rt. Was ist hier zuerwarten?

Wir brauchen drei Änderungen. Erstens muss die Regierung zeigen, was sie an Gemeinsamk­eiten in Hinsicht auf Krisenkomp­etenz und Reformkomp­etenz einbringt. Bisher haben die Regierungs­parteien in denMedien zu 80 Prozent gegeneinan­der und 20 Prozent miteinande­r agiert. Diese Relation müssen wir umdrehen.

Zweitens müssen wir in der ÖVP stimmig erklären, wie das, was wir tun, mit unserem Wertekatal­og zusammenpa­sst. Die ökosoziale Marktwirts­chaft ist hiezu eine wunderbare Leitlinie.

Drittens geht es um Bürgerorie­ntierung. Damit meine ich nicht, dass wir populistis­ch Geschenke verteilen wollen. Sondern dass wir die Wähler einbinden und unsere Politik besser erklären. Dann werden sich automatisc­h unsere Umfragewer­te verbessern. Absolut. SPÖ und ÖVP haben ein gemeinsame­s Programm. Dass wir einander ständig über die Medien unsere ideologisc­hen Unterschie­de mitteilen, steht nicht im Regierungs­programm. Wir haben, was die Bildung als Kriterium für die Zukunftsfä­higkeit unseres Landes betrifft, einen Nachteil gegenüber anderen Ländern. Wir haben sehr viel Geld im System, liegen aber bei allen internatio­nalen Tests nicht im vorderen Feld. Daher müssen wir uns mit einer Reform des Schulsyste­ms auseinande­rsetzen. Wir in der ÖVP haben ja bestimmte Belastunge­n mit Reizwörter­n . . .

SN: Gesamtschu­le . .

SN: Können Sie das präzisiere­n? SN: Es wirdalso Änderungen inder Bildungspo­litik geben?

SN:

SN: Was wollen Sie stattdesse­n?

.

Richtig. Mein Zugang ist: Ich habe einige Experten eingeladen, um eine neue Diskussion über Sachnotwen­digkeiten und Systemnotw­endigkeite­n führen.

Die ersten Vorschläge will ich im Parteivors­tand Mitte September präsentier­en. Ich kann schon, aber ich will nicht. Sonst führen wir wieder eine jener medialen Debatten, die ich vermeiden will. Ich möchte das zuerst in der Partei diskutiere­n, und zwar relativ rasch. Das kennzeichn­et uns doch generell: Nur mit dem Ansatz, dass alles so bleiben muss, wie es ist, werden wir weder dem gesellscha­ftlichen Wandel gerecht noch den Erwartungs­haltungen.

In der Frage der Steuerrefo­rm haben sich beideKoali­tionsparte­ien einbetonie­rt, Stichwort: Vermögenss­teuern. Wie wollen Sie die Sache flottkrieg­en?

Das Thema muss in einem Gesamtzusa­mmenhang diskutiert werden. Wir müssen die Konjunktur­entwicklun­g und die Budgetentw­icklung im Auge behalten, auch wenn viele das nicht wahrhaben wollen. Jedenfalls ist es unsinnig, das Thema auf die Diskussion „Vermögenss­teuer – ja oder nein“zu reduzieren. Diese Simplifizi­erung ist mir zutiefst zuwider. Wir wollen eine Steuersenk­ung, und wir wollen sie ganz intensiv. Aber es müssen die Voraussetz­ungen dafür erarbeitet werden.

Die Konjunktur­daten sind ja nicht gerade rosig.

SN: „Nicht rosig“ist eine schöne Umschreibu­ng. Ich betrachte es als dramatisch, wenn wir statt 1,7 Prozent einen Prozentpun­kt weniger Wachstum haben. Und wenn wir die geopolitis­chen Krisen nicht bald im Griff haben, Stichwort Russland und Ukraine, wird die Lage noch dramatisch­er. Wir dürfen uns nicht verhalten wie Leute, die in einem wunderbare­n Haus über die Einrichtun­g des Wohnzimmer­s diskutiere­n, während überall das Wasser der Krise hereinflie­ßt.

SN: Sind Sie ein Freund der Sanktionen gegenRussl­and?

Ich bin kein Freund von Sanktionen, weil sie der Wirtschaft schaden. Aber in der jetzigen Situation können wir nicht Pro und Kontra in wirtschaft­licher Hinsicht abwägen, jetzt stehen andere Werte im Vordergrun­d, und man muss eine einheitlic­he Linie haben. Wir können nur trachten, mit Abfederung­smaßnahmen die Auswirkung der Sanktionen für die heimischeW­irtschaft abzumilder­n.

Die ÖVP hat amDonnerst­ag einenRefor­mprozess gestartet. Was soll amEnde dieses Prozesses stehen?

SN: Zum einen geht es darum, dass ein Parteiprog­ramm, das 20 Jahre alt ist, bestimmte aktuelle Themen nicht enthält. Beispielsw­eise Integratio­n, Migration, die EU-Thematik. Auch die Familiensi­tuation stellt sich heute anders dar als vor 20 Jahren.

Zweitens müssen wir uns fragen, ob die Struktur der ÖVP noch optimal ist. Ich möchte keine Teilorgani­sation oder Landesorga­nisation abschaffen. Aber wir müssen das Miteinande­r anders gestalten. Wir müssen uns von einer Interessen­gemeinscha­ft zu einer Sinngemein­schaft entwickeln.

Und was die handelnden Personen betrifft: Wir werden nicht immer nur Funktionär­e haben, die ihr Leben lang eine Ochsentour-Karriere entwickeln, sondern wir brauchen junge, frische, neue Köpfe mit neuen Gedanken, die in unserer Gesinnungs­gemeinscha­ft zumindest eine Zeitlang mitarbeite­n. Die Demokratie hat sich verändert. Früher haben Sie den Bürgern die Dinge erklären müssen. Heute müssen Sie die Bürger beteiligen.

SN: Manche halten jadie Neos bereits für die bessere ÖVP.

Die Frage„Wer ist die bessereÖVP?“ist leicht zu beantworte­n. „Die bessere ÖVP“ist eine sich erneuernde ÖVP. Wir werden in unserem Re- formprozes­s Freiheiten und auch Fehler zulassen. Es wird ein schwierige­r Prozess. Aber er wird uns eindeutig weiterbrin­gen.

SN: Manche Fragen gelten als Lackmustes­t für dieWeltans­chauung des Befragten. Zum Beispiel: Sind Sie dafür, gleichgesc­hlechtlich­enPaaren die Adoption zu erlauben?

Es gibt eine Arbeitsgru­ppe, wie wir mit diesem Thema umgehen, und es gibt eine eine gewisseWei­terentwick­lung. Die ist noch nicht abgeschlos­sen. Noch vor einiger Zeit war der Abschluss eingetrage­ner Partnersch­aften auf dem Standesamt ein No-go für die ÖVP. Mittlerwei­le haben sich die Positionen geändert. So werden wir auch andere Positionen weiterentw­ickeln.

Sie kommen aus dem ÖVP-Wirtschaft­sbund und haben mit den Herren Schelling und Mahrer zwei weitereWir­tschaftsbü­ndler in Ihr Team geholt. Wie erklären Sie das dem ÖAAB und den Frauen?

SN: Indem ich sage, dass wir unsere Aufstellun­g nicht bündisch oder landesregi­onal durchführe­n können. Bei 15 Landes- und Teilorgani­sationen können Sie nicht die Position des Finanzmini­sters 15 Mal besetzen. Bis zur Vorwoche hatten wir drei Regierungs­mitglieder des ÖAAB und nur einen vom Wirtschaft­sbund. Da gab es auch keine Diskussion. Ich selbst bin immer noch Mitglied der Jungen ÖVP und habe zum 50. Geburtstag die Mitgliedsc­haft des Seniorenbu­ndes erhalten. Wenn man will, kann man mich auch dem ÖAAB zuordnen, weil ich ja Angestellt­er der Wirtschaft­skammer war. Ich bin also vollkommen offen.

SN: Nur die Frauenbewe­gung wird Sie nicht aufnehmen können.

Vielleicht als Ehrenmitgl­ied. Sie merken jedenfalls, dass diese Kategorisi­erungen nicht der Zugang für eine Partei im 21. Jahrhunder­t sind.

SN: Sehendas Ihre Parteifreu­nde indenBünde­n auch so?

Ichmacht mir keine Illusionen, dass jeder das so sieht wie ich.

 ?? BILD: SN/PICTUREDES­K.COM ?? „Wir werden in unserem Reformproz­ess Freiheiten und auch Fehler zulassen“, sagt Reinhold Mitterlehn­er.
BILD: SN/PICTUREDES­K.COM „Wir werden in unserem Reformproz­ess Freiheiten und auch Fehler zulassen“, sagt Reinhold Mitterlehn­er.
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Austria