Mariupol will sich behaupten
In den Stunden vor dem angeblichen Waffenstillstand wurde noch heftig gekämpft. Salven aus allen Kalibern flogen hin und her.
Die Septembernacht ist still und sternenklar am BlockpostenWostotschnoje in Mariupol. Die Kämpfer des neuntenWinnizer Territorialschutzbataillons sitzen im Gras und rauchen. „450 Mann sind wir“, sagt Unteroffizier Jura. „50 Freiwillige oder Vertragssoldaten, alle anderen sind Eingezogene.“Wer kündigen wolle, dem drohten drei Jahre Gefängnis, den übrigen der Heldentod. „Ich bin 46, ich habe schon Enkel“, sagt Jura. „Aber die Burschen, die 20 oder 21 Jahre alt sind, von denen haben manche noch nie eine Frau gehabt.“Das ganze Bataillon sei für den Waffenstillstand.
Freitagnachmittag sollten im Osten des Landes dieWaffen verstummen. Sowohl der ukrainische Präsident Petro Poroschenko wie die vom Kreml gesteuerten Führer der Separatisten hatten eine Waffenru- Stefan Scholl berichtet für die SN aus der Ukraine he in Aussicht gestellt. Eine Kontaktgruppe ukrainischer, russischer und OSZE-Unterhändler verhandelte in Minsk mit den selbst ernannten Führern der separatistischen „Volksrepubliken“Lugansk und Donezk. Eine bisher diplomatisch sehr unglückliche Zusammensetzung. Aber gegen 16 Uhr ließ das Artilleriefeuer bei Mariupol nach. Eine gute Stunde später meldete die russische Agentur RIA Nowosti, es sei in Minsk ein Waffenstillstand unterzeichnet worden.
Am Donnerstag hatten die Separatisten, offenbar wieder massiv von russischen Truppen unterstützt, die Ukrainer bei Lugansk und beim Flughafen Donezk angegriffen. Auch Poroschenkos Erklärung, die NATO wolle der Ukraine Präzisionswaffen liefern, klang nicht nach Frieden. Dann verdichteten sich die von Artilleriesalven unterstrichenen Gerüchte, die Russen wollten die Halbmillionenstadt Mariupol am AsowschenMeer bis Freitagmittag erobern, rechtzeitig zum Waffenstillstand.
Jura und seine Kameraden waren erzürnt darüber, dass sie mit 70 Mann den Blockposten Wostotschnoje gegen die russischen Panzerkolonnen verteidigen sollten. Im Morgengrauen des Freitags aber hatte Jura seinen Groll vergessen. Im ersten Tageslicht rauscht ein gutes Dutzend ukrainischer Kampffahrzeuge vorbei: Schützenpanzer, Panzer und mit Stahlplatten zu rollenden Festungen verschweißte Lastwagen, blau-gelbe Fahnen flattern, die Kinderaugen der aufgesessenen Soldaten leuchten vor Kampfeslust. „Ruhm der Ukraine!“, ruft Jura. „Ruhm den Helden!“, die Burschen auf den Panzerwagenwinken zur Antwort mit geballten Fäusten. Dann brausen sie weiter nach Os- ten, eine Minute später blitzen die ersten Feuerstöße eines ukrainischen Grad-Raketenwerfers auf, heute greifen die Ukrainer selbst an.
Es sieht aus, als habe der mögliche Waffenstillstand militärische Torschlusspanik ausgerufen. Wohl auch, weil die sieben Ausführungsbestimmungen, die Kremlchef Wladimir Putin vorgegeben hat, unter anderem einen Rückzug der ukrainischen Artillerie und Luftwaffe vorsehen. Aber auch eine Einstellung der Rebellenoffensive.
Vor dem Pausen- oder gar Schlusspfiff wird noch heftig um Boden gerungen. Salven aus allen Kalibern fliegen hin und her, ein russischer Grad-Raketenwerfer zerfetzt die Stoppelfelder jenseits des Blockpostens. „Sie wollen uns reif fürs Nachgeben schießen“, klagt die Kiewer Kriegsreporterin Inna in Mariupol. Nach Augenzeugenberichten dringen mehrere russische Schützenpanzer in den Bezirk Schirokino ein, den Südostzipfel Mariupols. Aber die Triumphmeldung, die Stadt sei erobert, ist nicht mehr als nur ein neuer Bluff im Verhandlungspoker.
Doch Nowokaterinowka, 80 Kilometer nordöstlich von Mariupol gelegen, eroberte die russisch-rebellische Allianz schon vor einerWoche. Viele Separatistenwollenweiter kämpfen. „Ehrlich gesagt, wir machen weiter, bis wir die ukrainischen Nazis auch aus Lemberg vertrieben haben“, sagt ein Schützenpanzerkommandantmit rötlichem Vollbart und dem Codenamen „Sergeant“, während seine Leute die Trümmer und Toten einer durch Artillerie zusammengeschossenen ukrainischen Kolonne betrachten. Seit Monaten trichtert die russische Propaganda den Separatisten und auch den eigenen Soldaten ein, sie führten einen heiligen Krieg. Wie einst die Rote Armee kämpften sie gegen faschistische Völkermörder.
Die Logik dieses Vergleichs verbietet jede Versöhnung, schreit nach der bedingungslosen Kapitulation des Feindes. Umgekehrt bezeichnet die ukrainische Propaganda die Aufständischen offiziell nur als „Terroristen“. Um Mariupol poltert die Schlacht, immer wieder rasen Ambulanzen im Slalom durch die Betonbarren des Blockpostens. Dann kehrt die gepanzerte Kolonne zurück. Diesmal hat sie niemand zusammengeschossen, die Fahnen flattern blau-gelb, die aufsitzenden Burschen aber haben müde Gesichter bekommen, darüber strömt Schweiß.
Und wie bei der Hinfahrt achtet auch nun niemand auf das große Friedensplakat, das über dem Blockposten hängt: „Was tut ihr, Söhne? Der Krieg ist der Weg in die Hölle.“