DasMärchen von den Zinsen
Es war einmal . . . – so könnte eine Geschichte über die jüngsten Beschlüsse der Europäischen Zentralbank auch beginnen. Denn die EZB hat den Leitzins faktisch abgeschafft und damit Schluss mit dem Märchen gemacht, dass Geld einen Preis hat, der sich im Zins ausdrückt. Die EZB und die übrigen Notenbanken in der Welt haben ein Kunststück geschafft: Sie haben Geld entwertet – und das ganz ohne Inflation. Das muss ihnen erst mal jemand nachmachen.
Geld ist in der Wirtschaft längst zu einer Ware geworden, die wie jede andere gehandelt wird. Doch in einer Welt, in der alles einen Preis haben muss, damit ihm ein Wert beigemessen wird, ist Geld nun offensichtlich kein begehrtes Gut mehr. Was nichts kostet, wird nicht gern gekauft. Das zeigt sich daran, dass die Geschäftsbanken das Geld schnöde zurückweisen, das ihnen die EZB quasi zum Nulltarif aufdrängt. Und es zeigt sich an der lahmenden Kreditnachfrage von Unternehmen und Privaten.
0,05 Prozent – es scheint, als näherten wir uns wieder Zeiten, in denen es verpönt war, für das Geldverleihen etwas zu verlangen. Über die Rechtfertigung des Zinses wird seit Aristoteles nachgedacht. Er hielt es für unnatürlich, dass Geld aus Geld entsteht, und lehnte Zinsen ab. Es dauerte lange, bis sich die Sicht durchsetzte, dass der Verleih von Kapital nicht kostenlos sein kann. Aber in der Frage, wofür der Zins entschädigt, für die Zeit, das Risiko oder für den Profit, sind Ökonomen uneins.
Ganz neue Töne hört man anderswo. „Wir haben uns für die nächsten zwei Jahre vorgenommen, den Zins komplett dem Markt und den ökonomischen Kräften zu überlassen.“Das Zitat stammt von Jiange Li, Vizechef der Central Huijin Investment und damit ein führender Bankenaufseher in China. Da klingt im Reich der Mitte mehr Marktwirtschaft durch als in den kapitalistischen Ländern. Angelehnt an ein chinesisches Sprichwort kann man nur sagen: Es sind fürwahr spannende Zeiten, in denen wir leben.