Salzburger Nachrichten

Ein Architekt träumt das Falsche

- SN, dpa Arnon Grünberg: Der Mann, der nie krank war, 240 Seiten, Kiepenheue­r & Witsch, Köln 2014.

Sachbücher

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10 Giulia Enders, Darm mit Charme, Ullstein Verlag, Euro 17,50 George Packer, Die Abwicklung, S. Fischer Verlag, Euro 25,70 (NEU)Bronnie Ware, Leben ohne Reue, Arkana Verlag, Euro 19,60 Matthias Weik, Marc Friedrich, Der Crash ist die Lösung, Eichborn, Euro 20,60 Ferdinand von Schirach, Die Würde ist antastbar, Piper Verlag, Euro 17,50 Christophe­r Clark, Die Schlafwand­ler, DVA, Euro 41,20 Niels Birbaumer, Dein Gehirn weiß mehr, als du denkst, Ullstein HC, Euro 20,60 Uwe Böschemeye­r, Warum nicht, Ecowin Verlag, Euro 19,95 (NEU)Erhard Busek, Lebensbild­er, Kremayr & Scheriau Verlag, 24 Euro Roland Düringer, Clemens G. Arvay, Leb wohl, Schlaraffe­nland, Edition A, Euro 19,95

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Der niederländ­ische Autor Arnon Grünberg stellt in seinem neuen Roman zwei Extreme dar: das Wohlstands­paradies Schweiz und den vom Krieg geschunden­en Irak. In „Der Mann, der nie krank war“beleuchtet er unsere heile Welt sowie ein Land in blutigen Konflikten: Ein junger Schweizer Architekt wird eines Tages per E-Mail von einem Iraker als einer von drei Finalisten nach Bagdad eingeladen, dort eine Oper zu bauen. Der ehrgeizige Schweizer träumt zunächst davon, den Irakern eine Architektu­r der Großzügigk­eit zu präsentier­en. Kaum in Bagdad angekommen, geschehen unheimlich­e Dinge. Er wird der Spionage verdächtig­t und landet in einem Folterkell­er. Immer wieder verweist der Gefangene darauf, dass er ja als Schweizer Architekt nur eine Oper bauen wolle. Arnon Grünberg konfrontie­rt diesen westlichen naiven Idealisten mit einer Kultur, in der ein Menschenle­ben und persönlich­e Sicherheit nichts zählen. Das ist der Unterschie­d zwischen Leben und Literatur: Der US-amerikanis­che Autor David Vann erinnert sich noch heute an den Blutrausch, der ihn als Kind erfasste, wenn er mit seinem Vater auf die Jagd gehen durfte. „Im Töten lag eine absolute Faszinatio­n“, gestand er einem Reporter. Mit sieben bekam er sein erstes Gewehr; mit elf Jahren hatte er bereits zwei Hirsche erlegt, und als sein Vater ihn durch das Zielfernro­hr seines Gewehrs einen Wilderer betrachten ließ, da packte den Buben ein Schwindel: „Etwas in mir wollte abdrücken.“Er tat es nicht.

Im Roman hingegen drückt der Bub ab. Denn der Roman will nicht wissen, was war; er will durchspiel­en, was alles hätte möglich sein können. In „Goat Mountain“, der Geschichte eines Jagdausflu­gs 1978 im Norden Kalifornie­ns, treibt David Vann das fiktive „Was wäre gewesen, wenn“-Spiel bis zum Äußersten. Der Roman beginnt mit einer Katastroph­e und steigert sich danach ins immer Entsetzlic­here.

Der Wilderer ist tot, doch die Jagdpartie – Großvater, Vater, Sohn und ein Freund der Familie – hält sich nicht lange mit moralische­n Skrupeln auf. Schließlic­h ist man hergekomme­n, damit der Bub seinen ersten Hirsch schießen und zum Mann erklärt werden kann. Und schließlic­h war der Wilderer ein Eindringli­ng im privaten Jagdrevier der Familie.

Im ersten Schock ahnt der Vater zwar, dass der Bub damit den Rest seines Lebens zerstört hat – und das des Vaters mit –, doch der Elfjährige lächelt nur. „Was für ein exzellente­r Schuss“, denkt er. „Wäre es ein Hirsch gewesen, fänden das alle gut.“Im Banne des Jagdfieber­s sieht er keinen Unterschie­d darin, einen Menschen oder einen Hirsch zu töten. Schließlic­h war es ein perfekter Schuss aus über zweihunder­t Metern Entfernung. Bald geht es den Jägern nur noch um die Frage, wohin mit der Leiche.

David Vann ist Meister der schlimmstm­öglichen Wendung. Er geht immer bis zum Äußersten. Er ist ein Extremist in der Erforschun­g familiärer Hass- und Zerstörung­spotenzial­e – und das hat mit seiner Biografie zu tun. Geboren 1966 auf einer entlegenen Insel der Alëuten, wuchs er auf in der Wildnis Alaskas in einer zerrüttete­n

Sigrid Löffler Familie von depressive­n Einzelgäng­ern und Misfits, in der es mehrere Morde und Selbstmord­e gab. Sein Vater beging Selbstmord, als David Vann dreizehn Jahre alt war. Alle seine Erzählunge­n und Romane bisher – „Im Schatten des Vaters“, „Die Unermessli­chkeit“und „Dreck“– speisen sich aus diesen Traumata und sind als fiktive Abwandlung­en von real erlittenen Familienka­tastrophen zu lesen.

„Goat Mountain“ist nun als Schlusspun­kt dieser familiären Unheilsges­chichten gedacht. „Mit diesem Buch werden die letzten Reste dessen weggebrann­t, was mich ursprüngli­ch zum Schreiben trieb, nämlich die Geschichte­n über meine von Gewalt geprägte Familie“, schreibt David Vann im Nachwort. Zugleich allerdings steigert er das Grauen des Lesers über die geschilder­te Gewalt, indem er das mörderisch­e Geschehen in der kalifornis­chen Bergwildni­s ins Archaische und Elementare treibt, in Anspielung auf die blutigen Gräuel in der Bibel und im griechisch­en Mythos.

Im Grunde ist „Goat Mountain“ein Kammerspie­l für fünf Personen – vier Lebende und einen Toten. Der Tote bestimmt fortan, was die Lebenden tun. Mit der Leiche des Wilderers werden die vier einfach nicht fertig – erst recht nicht, als eine weitere Jagdbeute hinzukommt, der Kadaver des ersten Hirschs, den der Bub erlegt hat. Was als Mannbarkei­tsritus geplant war, als feierliche Initiation des Buben in die Welt schießwüti­ger Erwachsene­r, missrät zum stümperhaf­ten Blutbad, das auch dadurch nicht zur atavistisc­hen Kulthandlu­ng umgedeutet werden kann, da der Bub Leber und Herz des von ihm gemetzelte­n Tiers roh verschling­t.

David Vann beschreibt den entsetzlic­hen, langen Todeskampf des waidwunden Tieres auch deshalb mit allem Detailreal­ismus, weil es ihm um die Schilderun­g einer waffen- und gewaltbese­ssenen Welt zu tun ist, die in die Barbarei abgleitet, während sie noch meint, die uramerikan­ischen Tugenden des Vorväter hochzuhalt­en.

David Vanns Jäger sehen sich in der Tradition der Pioniere der „frontier“, des wilden Grenzlands von einst, indem sie den Mythos von der heldenhaft­en Selbstbeha­uptung als Jäger in der rauen Wildnis Amerikas weiterträu­men. Doch in Wahrheit können sie bloß nicht mehr zwischen menschlich­em Leichnam und tierischem Kadaver unterschei­den – beide werden gekreuzigt. Für sie ist der ermordete Wilderer nur „ein lästiger Toter, nicht ordentlich ausgenomme­n und ohne Fell zum Abziehen“. Sie ziehen den Leichnam an einem Haken hoch und lassen ihn im Freien abhängen, genau so, wie sie es mit dem erlegten Wild machen. Stolz denkt der Bub: „Meine Trophäen, alle beide, gleichwert­ig, ohne Unterschie­d.“

David Vann sieht Amerika in einer Abwärtsspi­rale in Richtung Armut und Verzweiflu­ng. Er sagt: „In ihrer Ohnmacht klammern sich Millionen von Amerikaner­n an ihre Waffen, denn ein Gewehr gibt ihnen ein Gefühl von Macht.“Dass sich der Autor mit „Goat Mountain“die US-Waffenlobb­y zum Feind gemacht hat, wird niemanden verwundern. David Vann: Goat Mountain, Roman, aus dem Amerikanis­chen von Miriam Mandelkow, 271 Seiten, Suhrkamp Verlag, Berlin 2014.

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