Ein Architekt träumt das Falsche
Sachbücher
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10 Giulia Enders, Darm mit Charme, Ullstein Verlag, Euro 17,50 George Packer, Die Abwicklung, S. Fischer Verlag, Euro 25,70 (NEU)Bronnie Ware, Leben ohne Reue, Arkana Verlag, Euro 19,60 Matthias Weik, Marc Friedrich, Der Crash ist die Lösung, Eichborn, Euro 20,60 Ferdinand von Schirach, Die Würde ist antastbar, Piper Verlag, Euro 17,50 Christopher Clark, Die Schlafwandler, DVA, Euro 41,20 Niels Birbaumer, Dein Gehirn weiß mehr, als du denkst, Ullstein HC, Euro 20,60 Uwe Böschemeyer, Warum nicht, Ecowin Verlag, Euro 19,95 (NEU)Erhard Busek, Lebensbilder, Kremayr & Scheriau Verlag, 24 Euro Roland Düringer, Clemens G. Arvay, Leb wohl, Schlaraffenland, Edition A, Euro 19,95
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Der niederländische Autor Arnon Grünberg stellt in seinem neuen Roman zwei Extreme dar: das Wohlstandsparadies Schweiz und den vom Krieg geschundenen Irak. In „Der Mann, der nie krank war“beleuchtet er unsere heile Welt sowie ein Land in blutigen Konflikten: Ein junger Schweizer Architekt wird eines Tages per E-Mail von einem Iraker als einer von drei Finalisten nach Bagdad eingeladen, dort eine Oper zu bauen. Der ehrgeizige Schweizer träumt zunächst davon, den Irakern eine Architektur der Großzügigkeit zu präsentieren. Kaum in Bagdad angekommen, geschehen unheimliche Dinge. Er wird der Spionage verdächtigt und landet in einem Folterkeller. Immer wieder verweist der Gefangene darauf, dass er ja als Schweizer Architekt nur eine Oper bauen wolle. Arnon Grünberg konfrontiert diesen westlichen naiven Idealisten mit einer Kultur, in der ein Menschenleben und persönliche Sicherheit nichts zählen. Das ist der Unterschied zwischen Leben und Literatur: Der US-amerikanische Autor David Vann erinnert sich noch heute an den Blutrausch, der ihn als Kind erfasste, wenn er mit seinem Vater auf die Jagd gehen durfte. „Im Töten lag eine absolute Faszination“, gestand er einem Reporter. Mit sieben bekam er sein erstes Gewehr; mit elf Jahren hatte er bereits zwei Hirsche erlegt, und als sein Vater ihn durch das Zielfernrohr seines Gewehrs einen Wilderer betrachten ließ, da packte den Buben ein Schwindel: „Etwas in mir wollte abdrücken.“Er tat es nicht.
Im Roman hingegen drückt der Bub ab. Denn der Roman will nicht wissen, was war; er will durchspielen, was alles hätte möglich sein können. In „Goat Mountain“, der Geschichte eines Jagdausflugs 1978 im Norden Kaliforniens, treibt David Vann das fiktive „Was wäre gewesen, wenn“-Spiel bis zum Äußersten. Der Roman beginnt mit einer Katastrophe und steigert sich danach ins immer Entsetzlichere.
Der Wilderer ist tot, doch die Jagdpartie – Großvater, Vater, Sohn und ein Freund der Familie – hält sich nicht lange mit moralischen Skrupeln auf. Schließlich ist man hergekommen, damit der Bub seinen ersten Hirsch schießen und zum Mann erklärt werden kann. Und schließlich war der Wilderer ein Eindringling im privaten Jagdrevier der Familie.
Im ersten Schock ahnt der Vater zwar, dass der Bub damit den Rest seines Lebens zerstört hat – und das des Vaters mit –, doch der Elfjährige lächelt nur. „Was für ein exzellenter Schuss“, denkt er. „Wäre es ein Hirsch gewesen, fänden das alle gut.“Im Banne des Jagdfiebers sieht er keinen Unterschied darin, einen Menschen oder einen Hirsch zu töten. Schließlich war es ein perfekter Schuss aus über zweihundert Metern Entfernung. Bald geht es den Jägern nur noch um die Frage, wohin mit der Leiche.
David Vann ist Meister der schlimmstmöglichen Wendung. Er geht immer bis zum Äußersten. Er ist ein Extremist in der Erforschung familiärer Hass- und Zerstörungspotenziale – und das hat mit seiner Biografie zu tun. Geboren 1966 auf einer entlegenen Insel der Alëuten, wuchs er auf in der Wildnis Alaskas in einer zerrütteten
Sigrid Löffler Familie von depressiven Einzelgängern und Misfits, in der es mehrere Morde und Selbstmorde gab. Sein Vater beging Selbstmord, als David Vann dreizehn Jahre alt war. Alle seine Erzählungen und Romane bisher – „Im Schatten des Vaters“, „Die Unermesslichkeit“und „Dreck“– speisen sich aus diesen Traumata und sind als fiktive Abwandlungen von real erlittenen Familienkatastrophen zu lesen.
„Goat Mountain“ist nun als Schlusspunkt dieser familiären Unheilsgeschichten gedacht. „Mit diesem Buch werden die letzten Reste dessen weggebrannt, was mich ursprünglich zum Schreiben trieb, nämlich die Geschichten über meine von Gewalt geprägte Familie“, schreibt David Vann im Nachwort. Zugleich allerdings steigert er das Grauen des Lesers über die geschilderte Gewalt, indem er das mörderische Geschehen in der kalifornischen Bergwildnis ins Archaische und Elementare treibt, in Anspielung auf die blutigen Gräuel in der Bibel und im griechischen Mythos.
Im Grunde ist „Goat Mountain“ein Kammerspiel für fünf Personen – vier Lebende und einen Toten. Der Tote bestimmt fortan, was die Lebenden tun. Mit der Leiche des Wilderers werden die vier einfach nicht fertig – erst recht nicht, als eine weitere Jagdbeute hinzukommt, der Kadaver des ersten Hirschs, den der Bub erlegt hat. Was als Mannbarkeitsritus geplant war, als feierliche Initiation des Buben in die Welt schießwütiger Erwachsener, missrät zum stümperhaften Blutbad, das auch dadurch nicht zur atavistischen Kulthandlung umgedeutet werden kann, da der Bub Leber und Herz des von ihm gemetzelten Tiers roh verschlingt.
David Vann beschreibt den entsetzlichen, langen Todeskampf des waidwunden Tieres auch deshalb mit allem Detailrealismus, weil es ihm um die Schilderung einer waffen- und gewaltbesessenen Welt zu tun ist, die in die Barbarei abgleitet, während sie noch meint, die uramerikanischen Tugenden des Vorväter hochzuhalten.
David Vanns Jäger sehen sich in der Tradition der Pioniere der „frontier“, des wilden Grenzlands von einst, indem sie den Mythos von der heldenhaften Selbstbehauptung als Jäger in der rauen Wildnis Amerikas weiterträumen. Doch in Wahrheit können sie bloß nicht mehr zwischen menschlichem Leichnam und tierischem Kadaver unterscheiden – beide werden gekreuzigt. Für sie ist der ermordete Wilderer nur „ein lästiger Toter, nicht ordentlich ausgenommen und ohne Fell zum Abziehen“. Sie ziehen den Leichnam an einem Haken hoch und lassen ihn im Freien abhängen, genau so, wie sie es mit dem erlegten Wild machen. Stolz denkt der Bub: „Meine Trophäen, alle beide, gleichwertig, ohne Unterschied.“
David Vann sieht Amerika in einer Abwärtsspirale in Richtung Armut und Verzweiflung. Er sagt: „In ihrer Ohnmacht klammern sich Millionen von Amerikanern an ihre Waffen, denn ein Gewehr gibt ihnen ein Gefühl von Macht.“Dass sich der Autor mit „Goat Mountain“die US-Waffenlobby zum Feind gemacht hat, wird niemanden verwundern. David Vann: Goat Mountain, Roman, aus dem Amerikanischen von Miriam Mandelkow, 271 Seiten, Suhrkamp Verlag, Berlin 2014.