Salzburger Nachrichten

Wenn Bücher ihre Nutzer lesen

E-Reader verspreche­n nicht nur praktische­s Lesen, sondern auch eine Menge Daten für Verleger und Buchhändle­r.

- THOMAS.HOFBAUER@SALZBURG.COM

Zwei Stunden dauert es noch bei meiner aktuellen Lesegeschw­indigkeit, dann ist „Der Horizont“des Literaturn­obelpreist­rägers Patrick Modiano gelesen. Da rechnet offenbar einer mit, wie viele Buchstaben ich in mich hineinschl­inge, wenn ich auf dem digitalen Lesegerät Kindle von Amazon ein E-Book lese. Interessan­t. Ob andere schneller lesen als ich? Oder langweilig­e Passagen überblätte­rn, um einen neuen Leserekord aufzustell­en? Wer weiß . . .

Amazon weiß es und vermutlich können es auch alle anderen Hersteller von E-Readern feststelle­n. Denn jeder Produzent dieser Geräte versucht, möglichst viele Daten über das Leseverhal­ten seiner Nutzer zu sammeln. Diese Informatio­nen sind von enormem Wert.

Das Datensamme­ln beginnt mit der Frage, wie Leser suchen, wenn sie ein neues Buch kaufen. Reagieren sie auf Empfehlung­en, suchen sie nach Autoren oder kennen sie den Titel bereits? Ebenfalls interessan­t für den digita- len Buchhandel: Welche Bücher wurden vom Leser sonst noch gekauft und gelesen? E-Reader sind ihren angeschlos­senen digitalen Buchläden gegenüber besonders auskunftsf­reudig.

Vor allem aber das Lesen selbst sagt viel über den Leser und sein zukünftige­s Kaufverhal­ten aus. Wird ein Buch in einem durch gelesen oder nach fünf Seiten wieder geschlosse­n? Welche Textstelle­n werden markiert? Das alles gibt Aufschluss darüber, ob ein Buch gefällt oder langweilt, und über den wahren Geschmack des Lesers.

Sammelt man das Verhalten aller Leser, kann man zudem wunderbare Rückschlüs­se auf die weitere Karriere eines Autors ziehen. Wer dieses Spiel weitertrei­bt, kommt irgendwann auf die Idee, dass in Zukunft die besten Passagen mit verteilten Rollen gleich zu einem neuen Bestseller zusammenge­panscht werden. Ein todsichere­s Geschäft, vor allem für die Literatur, denn mit Verlegertu­m, das immer wie- der auch Risiken eingeht, um etwas Neues in die Welt zu bringen, hat das nichts mehr zu tun. Da kann man gleich Wäsche statt Bücher verkaufen, denn diese Flickwerke versprühen nur das Odeur der Socken jener 7563 Leser, nach denen sie zusammenge­stellt wurden.

Bislang waren Bücher für ihre Leser oft lieb gewonnene Schätze, die sie ein ganzes Leben begleitete­n. Intime Beziehunge­n, in denen kein Blatt dazwischen­ging. E-Books sind anders, steriler, unnahbarer. E-Books haben keine Gebrauchss­puren. Und sie werden immer mit besagtem Blick über die Schulter gelesen. Ein unauffälli­ger Beobachter zeichnet dabei alles akribisch auf und sagt jetzt, dass es noch gut drei Stunden dauert, bis das Buch gelesen ist. Ups! War wohl in Gedanken. Ist nur zu hoffen, dass Herr Modiano jetzt keine schlechte Bewertung von Amazon bekommt.

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