Wenn Bücher ihre Nutzer lesen
E-Reader versprechen nicht nur praktisches Lesen, sondern auch eine Menge Daten für Verleger und Buchhändler.
Zwei Stunden dauert es noch bei meiner aktuellen Lesegeschwindigkeit, dann ist „Der Horizont“des Literaturnobelpreisträgers Patrick Modiano gelesen. Da rechnet offenbar einer mit, wie viele Buchstaben ich in mich hineinschlinge, wenn ich auf dem digitalen Lesegerät Kindle von Amazon ein E-Book lese. Interessant. Ob andere schneller lesen als ich? Oder langweilige Passagen überblättern, um einen neuen Leserekord aufzustellen? Wer weiß . . .
Amazon weiß es und vermutlich können es auch alle anderen Hersteller von E-Readern feststellen. Denn jeder Produzent dieser Geräte versucht, möglichst viele Daten über das Leseverhalten seiner Nutzer zu sammeln. Diese Informationen sind von enormem Wert.
Das Datensammeln beginnt mit der Frage, wie Leser suchen, wenn sie ein neues Buch kaufen. Reagieren sie auf Empfehlungen, suchen sie nach Autoren oder kennen sie den Titel bereits? Ebenfalls interessant für den digita- len Buchhandel: Welche Bücher wurden vom Leser sonst noch gekauft und gelesen? E-Reader sind ihren angeschlossenen digitalen Buchläden gegenüber besonders auskunftsfreudig.
Vor allem aber das Lesen selbst sagt viel über den Leser und sein zukünftiges Kaufverhalten aus. Wird ein Buch in einem durch gelesen oder nach fünf Seiten wieder geschlossen? Welche Textstellen werden markiert? Das alles gibt Aufschluss darüber, ob ein Buch gefällt oder langweilt, und über den wahren Geschmack des Lesers.
Sammelt man das Verhalten aller Leser, kann man zudem wunderbare Rückschlüsse auf die weitere Karriere eines Autors ziehen. Wer dieses Spiel weitertreibt, kommt irgendwann auf die Idee, dass in Zukunft die besten Passagen mit verteilten Rollen gleich zu einem neuen Bestseller zusammengepanscht werden. Ein todsicheres Geschäft, vor allem für die Literatur, denn mit Verlegertum, das immer wie- der auch Risiken eingeht, um etwas Neues in die Welt zu bringen, hat das nichts mehr zu tun. Da kann man gleich Wäsche statt Bücher verkaufen, denn diese Flickwerke versprühen nur das Odeur der Socken jener 7563 Leser, nach denen sie zusammengestellt wurden.
Bislang waren Bücher für ihre Leser oft lieb gewonnene Schätze, die sie ein ganzes Leben begleiteten. Intime Beziehungen, in denen kein Blatt dazwischenging. E-Books sind anders, steriler, unnahbarer. E-Books haben keine Gebrauchsspuren. Und sie werden immer mit besagtem Blick über die Schulter gelesen. Ein unauffälliger Beobachter zeichnet dabei alles akribisch auf und sagt jetzt, dass es noch gut drei Stunden dauert, bis das Buch gelesen ist. Ups! War wohl in Gedanken. Ist nur zu hoffen, dass Herr Modiano jetzt keine schlechte Bewertung von Amazon bekommt.