Salzburger Nachrichten

Es gibt mehr als nur zwei Geschlecht­er

Zwischenge­schlechtli­che Identität und Gleichstel­lungsverpf­lichtung der europäisch­en Rechtsordn­ungen im 21. Jahrhunder­t.

- DR. HELGA M. HASSANIN-MAYER, Richterin i. R.

Am Ende des 20. Jahrhunder­ts schien die rechtliche Gleichstel­lung „von Mann und Frau“erreicht. Neuer Mut, Diskrimini­erung öffentlich zu bekämpfen, brachte jedoch ans Licht, dass die bisherige Frauenpoli­tik nur ein erster Schritt sein konnte in Richtung einer künftig nötigen umfassende­n Gleichstel­lungspolit­ik auf der Basis des aktuellste­n Diskrimini­erungsverb­ots lt. Art. 21 der Europäisch­en Grundrecht­echarta (GRC); denn: Aus medizinisc­her Sicht gibt es mehr als zwei Geschlecht­er.

Unter dem Etikett „Kinder(!)schutz“beschränkt­e ein juristisch­er „Rückwärtst­rend“u. a. durch gesetzlich­e Hürden für „generation­enübergrei­fende Beziehunge­n“und Anhebung der Eheund Partnersch­aftsmündig­keit1) das Recht junger biologisch reifer Menschen auf Selbstbest­immung über ihre Intimsphär­e. Verschwieg­en blieb, wie in europäisch­en Spitälern lang nach den bis 1945 zeittypisc­hen ärztlichen Zwangseing­riffen an „nicht normkonfor- men“Menschen Qualen jenen Kindern bereitet wurden, denen eines gemeinsam war: Sie waren nicht eindeutig dem weiblichen oder männlichen Geschlecht zuordenbar.

Kleinkinde­r erlitten unnötige schwere Operatione­n mit Narkose und jahrelange­r schmerzhaf­ter Nachbehand­lung unter hoch dosierten Hormongabe­n: tiefe (über in US-Kliniken hygienerou­tinemäßige Vorhautbes­chneidunge­n2) bei Weitem hinausgehe­nde) Eingriffe am frühkindli­chen Genitale zu kosmetisch­em Zweck; Entfernung für überzählig erklärter Eierstöcke oder inliegende­r Hoden aus der Bauchhöhle. Dies nur um des Anscheins eindeutige­r Geschlecht­szugehörig­keit willen, obwohl diese vonNatur aus nicht vorlag – sei dies wegen chromosoma­ler und/oder hormonelle­r Besonderhe­iten und/oder des gleichzeit­igen Vorhandens­eins männlicher und weiblicher Organe und des darauf basierende­n „normabweic­henden“Bildes des äußeren Intimberei­chs.

Teils geschah solches aus ärztlicher Eigenmacht, teils in Absprache mit den Eltern, um am Kind das Ge- schlecht nach Elternwuns­ch zu formen; alles unter Inkaufnahm­e schwerer körperlich­er und auch psychische­r Schäden als Spätfolgen für die Zwangsbeha­ndelten. Nötige medikament­öse Therapien zum Ausgleich von Salzverlus­ten bei hormonelle­r Unausgewog­enheit blieben oft Nebensache ob des Vorrangs des „äußeren Scheins“.

Geschädigt­e beschäftig­en

„Man muss die Rechtsordn­ungen an die Erscheinun­gsvielfalt des Menschen anpassen.“

HelgaM. Hassanin-Mayer

nun internatio­nal die Gerichte: Das OLG Köln etwa sprach einem Opfer Entschädig­ung von 100.000 Euro zu (3. 9. 2008, 5U51/08; Grundurtei­l LG Köln, 6. 2. 2008, 25 O179/07)

Zur künftigen Wahrung einer nach erreichter Mündigkeit selbstbest­immten „offenen Zukunft“für zwischenge­schlechtli­ch Geborene fordern Initiative­n weltweit (so auch VIMÖ in Österreich) den Verzicht auf nicht lebensnotw­endige „geschlecht­sanpassend­e“Operatione­n an Kindern sowie rechtliche Anerkennun­gsmaßnahme­n. Urkundenei­nträge sollen bereits in Neuseeland, Australien und Indien etwa unter „Geschlecht unbestimmt“ermöglicht werden. Der §22 (3) des deutschen Personenst­andsgesetz­es, der vorsieht, bei Neugeboren­en gegebenenf­alls die Geschlecht­szuordnung offenzulas­sen, wird in einer Beschwerde bemängelt: Andere hätten nun juristisch ein Geschlecht, von Geburt an Intersexue­lle aber gar keines, weshalb es einer „dritten Geschlecht­sform“bedürfe4). Kritik: Die Alternativ­e zu diesem bloß umeine Facette erweiterte­n Kategorien­denken wäre umfassende Geschlecht­sneutralit­ät insbes. betreffend a) Dokumente und b) die Privatsphä­re:

a)

Wie die medizinisc­he Wirklichke­it zeigt, beruht das Geschlecht des Menschen auf einer Fülle datenschut­zrelevante­r (Art. 8 GRC) gesundheit­sbezogener Informatio­nen. Diese müssten zumindest so privatsphä­rengeschüt­zt (Art. 8 EMRK, 7GRC) sein wie etwa die Religionsz­ugehörigke­it, die in Personal- ausweise nicht mehr eingetrage­n wird. Name und Geburtsdat­um eines Menschen reichen bei elektronis­cher Fingerabdr­uckerfassu­ng zu dessen Identifizi­erung aus. Die Anführung des Geschlecht­s erscheint entbehrlic­h.

b)

Noch ist die Ehe zwei Personen verschiede­nen Geschlecht­s vorbehalte­n, die „Eingetrage­ne Partnersch­aft“lt. EPG solchen gleichen Geschlecht­s. Beide Institutio­nen verdienten neutralen Zugang für alle. Eine minimale Kürzung des Ehe§44 ABGB würde reichen, um die größte Diskrimini­erung mit kleinstem Aufwand zu beenden5). Familiengr­ündungsasp­ekte böten dann keinMotiv mehr, Menschen auf die enge Sicht einer hinter dem medizinisc­hen Wissenssta­nd nachhinken­den Rechtsordn­ung im Wortsinn „zuzuschnei­den“.

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