Salzburger Nachrichten

Atemlos durch die Nacht des Bilderthea­ters

Willkommen im „Motel“der falschen Wirklichke­iten: Viktor Bodós Resümee ist ein Fieberwahn.

- MARTIN BEHR GRAZ. „Motel“von András Vinnai & Viktor Bodó, Schauspiel­haus Graz, nächste Vorstellun­gen: 28., 29. 10.; 7., 8., 13., 19. 11.; 4., 29. 12.

Der verrückte Professor auf seinem mobilen Thron schreit. Allerdings nicht mit der eigenen Stimme, sondern einer, die vom Band kommt. Seine kauzigen Mitarbeite­r irritieren ebenso, irgendetwa­s ist schiefgega­ngen. Bloß was? Sicher ist nur, dass nichts ist, wie es scheint. Schnitt. Schon treiben Auftragski­ller, die einer Quentin-Tarantino-Blutorgie entsprunge­n zu sein scheinen, ihr slapsticka­rtiges Unwesen. Wieder Schnitt. Jetzt eine Michael-Jackson-Einlage. Dauert nur einige Sekunden. Und schon geht sie weiter, die fulminante Tour de Force des ungarische­n Theatermac­hers Viktor Bodó: atemlos durch die Theaternac­ht.

In seiner letzten Arbeit in der Ära Anna Badora in Graz treibt der 36-jährige Regisseur undAutor alles auf die Spitze. Die Neufassung des 2003 mit András Vinnai geschriebe­n Stücks „Motel“dekonstrui­ert das Medium Theater mit theatralis­chen Mitteln, die bis zum Exzess getrieben werden. Handlung? Wer braucht das schon? Entwicklun­g der Figuren? Wozu? Wie ein Tornado fällt das Bilderthea­ter des Victor Bodó ins Schauspiel­haus Graz ein, wirbelt Charaktere, Schauspiel­er, Bühnenteil­e, Gewohnheit­en und tradierte Ordnungen herum, belustigt, amüsiert, provoziert, lähmt, verärgert und noch vielesmehr.

Das an sich schon skurrile Treiben in einem Motel, in dem unter anderem ein Lkw-Fahrer, ein Autor, wahnwitzig­e Forscher und ein phrasendre­schendes (Liebes-?)Pärchen einer Definition vonWirklic­hkeit nachjagen, gerät allmählich gänzlich außer Kontrolle. Hinter dem Foyer mit den grafischen Bühnenrequ­isiten lauern Täuschunge­n, Realitätsü­berlagerun­gen, Missver- ständnisse. Die Kunst des Zitats beherrscht Bodó meisterhaf­t, immer wieder irrlichter­t sattsam Bekanntes aus Film, TV, Literatur, Theater, Pop in diesem Haus der wirren Gefühle. Was der Ungar ursprüngli­ch aus Harold Pinters „Der stumme Diener“destillier­t hat, mixt er für seinen Grazer Abschied zu einem spritzigen Illusionsc­ocktail. Stromausfä­lle und viele andere Als-obPannen: Wie ein Wolfgang-BauerStück auf einem LSD-Trip, garniert mit Schlingens­ief’scher Agitations­lust und mit zahllosen Verbeugun- gen vor großen Geistern von Franz Kafka bis Alfred Hitchcock, von Stan & Olli bis David Lynch fällt die 140-minütige Abrechnung mit dem Theater, die zugleich auch eine Liebeserkl­ärung ist, über das Publikum her. In dem (alb)traumähnli­chen Rausch löst sich am Ende auch die Bühne auf, die ungarische­n Gastschaus­pieler beflegeln ihre österreich­ischen Kollegen (und umgekehrt), Akteure entschlüpf­en ihren Rollen.

Peinlich berührende­s Mitmachthe­ater – unter anderem gilt es eine Hymne zu singen – gehört ebenso zum Konzept wie ironische Selbstkrit­ik: „Unglaublic­h, was auf Provinzbüh­nen alles möglich ist.“Viktor Bodós Resümee über seine mit einigen wenigen Abstrichen höchst ergiebige Grazer Zeit fällt grell, sinnlich und vielstimmi­g aus. 15 höchst motivierte Schauspiel­er aus zwei Ländern gehen an ihre Grenzen und überschrei­ten diese auch. Bodós lustvolles Spektakelt­heater wird Graz fehlen.

Theater:

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BILD: SN/SCHAUSPIEL­HAUS GRAZ/SPUMA Ein Käfig voller durchgekna­llter Forscher.

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