Hirscher lässt die Muskeln spielen
Ob die Ski-Welt gerade den besten Marcel Hirscher aller Zeiten sieht, wird sich zeigen. Mit Sicherheit aber den körperlich fittesten.
SALZBURG. Bis zur „deppertsten aller Fragen“, wie er dem Fragesteller nonchalant beschieden hat, dauerte es genau zehn Minuten. So lang plauderte Marcel Hirscher bei der Pressekonferenz über sein eben absolviertes Rennen, seine Gedanken und seine Gefühle und dann kam schon die Frage, die er so hasst: Ist Marcel Hirscher der Weltcup 2015 überhaupt noch zu nehmen? „Jetzt ist die Saison noch nicht einmal einen Tag alt und schon wird über den Weltcup spekuliert. Das ist wirklich deppert.“
Diese Sichtweise mag zwar angesichts von 37 Weltcup-Entscheidungen, die den Herren bis Ende März noch ins Haus stehen, richtig sein. Doch die Art und Weise, wie Hirscher dem Feld enteilt ist, lässt die Frage nach den verbliebenen Gegnern sehr wohl aufkommen. „Heute war keiner zu sehen, er war in einer eigenen Liga“, bestätigte mit Fritz Dopfer just der Mann, der Hirscher mit Rang zwei noch am nächsten gekommen ist. Selbst in Ted Ligetys Selbstkritik war ein Stück Anerkennung für Hirscher verpackt. „Es ist ärgerlich, denn Rang zwei wäre leicht möglich gewesen. Aber gewinnen hätte ich nicht können“, meinte der Seriensieger aus den Staaten.
Erlebt man also gerade den besten Hirscher aller Zeiten? Antwort auf diese Frage wird die Saison geben. Tatsächlich erlebt man derzeit aber den wohl fittesten Hirscher aller Zeiten. Aus dem eher wendigen Techniker ist während des Sommers ein Muskelpaket geworden.
„Ich bin körperlich sicher besser als die letzten Jahre.“
Marcel Hirscher, Skifahrer Das bestätigt auch Hirscher selbst, wenngleich er selbst sagt, dass er die Muskelmasse hauptsächlich als Kraftreserve für den Winter zugelegt habe. „Im Winter verliere ich regelmäßig acht bis neun Kilo“, sagt er, und die Auswirkungen seien just im Saisonfinish bei Großereignissen und vor dem Weltcupfinale zu spüren.
So hat er heuer seinen Trainingsschwerpunkt stark verlagert, was ihm nicht leichtgefallen sei, wie er mit erstaunlicher Offenheit angefügt hat. Denn in der Trainingsphase habe er sich oft gefragt, ob das jetzt richtig sei, was er tue. „Aber irgendwann muss man das Herz haben, dass man das durchzieht und sich sagt: Ich muss nicht jeden Tag auf Ski stehen.“Das Problem dabei: Ob es das richtige Training war, merkt man immer erst, wenn es zu spät ist, nämlich zu Saisonstart. Andererseits: Neue Schwerpunkte zu setzen und seine eigenen Überzeugungen zu hinterfragen ist eben auch eine Qualität im Spitzensport. Eine, die man offenbar erst lernt, wenn man älter ist. So erinnert Hirscher in Stil, Aussagen und Trainingsumfang derzeit durchaus an die späten Stephan Eberharter und Hermann Maier, die im reiferen Sportleralter im Training ebenfalls andereWege eingeschlagen haben.
Auch wenn es für „depperte Fragen“und andere Analysen zu früh ist, so bleibt doch das Detail stehen, dass Hirscher Ligety nicht in puncto Technik, sondern in puncto Kraft enteilt ist – die erste Überraschung der Saison. Die zweite könnte es in Beaver Creek geben: Es würde auch nicht überraschen, wenn Hirscher in Beaver Creek neben Super G und Riesentorlauf auch einen Versuch auf der Abfahrt wagen würde – ins Abfahrtstraining geht er wegen des Super G ja ohnedies.
Ligety , Pinturault und Co. befinden sich jetzt in der Situation, in der Hirscher die letzten Jahre Sölden verließ: in der des Verlierers, der quälend lange dreiWochen bis zum Slalom in Levi Zeit hat, um herauszufinden, was nicht gelaufen ist. „Ich verfalle jetzt nicht in Panik“, teilte Ligety trotzig mit, während Hirscher süffisant meinte, dass er die nächsten Tage gut schlafen werde. „Das Puzzle passt.“Und so wird es nicht lang dauern, bis die „deppertste aller Fragen“wieder kommt.