Die Ukraine entwindet sich der Umarmung
Eine moderate Mehrheit im ukrainischen Parlament ist für Moskau Grund genug zum Ärgern.
Die viel strapazierte Behauptung, in der Ukraine seien Faschisten an der Macht, wird sich wohl nach dem Kiewer Wahlergebnis vom vergangenen Sonntag kaum noch halten lassen. Denn die ukrainischen Nationalisten sind in der neuen Rada, dem ukrainischen Parlament, klar und deutlich in der Minderheit.
Die Menschen in jenen Teilen des Landes, die nicht durch einen von außen begonnenen Krieg gelähmt sind, haben ziemlich eindeutig zu verstehen gegeben, was sie wollen: eine Regierung der Vernunft, die sich an europäischen Maßstäben orientiert. Genau das aber ist der Streitpunkt zwischen den derzeit Mächtigen in Moskau und der Ukraine. Es geht ja nur vordergründig um russischsprachige Menschen in der Ostukraine oder um die Krim. In Wahrheit will Moskau nicht zusehen, wie die Ukraine sich langsam, mühsam, aber doch, auf den Weg in Richtung Demokratie macht. Denn dieses Beispiel könnte Schule machen und stellt für die heute in Moskau herrschende Führungsschicht eine Bedrohung dar. Und das gleich in mehrfacher Hinsicht. Zum einen bricht damit ein gewichtiger Teil der einstigen Brüder aus der schon Jahrhunderte anhaltenden erstickenden Umarmung Russlands aus.
Zum Zweiten könnte irgendwann die russische Opposition wieder Fahrt aufnehmen, gestärkt durch die Bewegungen in der Ukraine. Und vor dieser Beispielwirkung hat man im Kreml Angst. Und zwar nicht erst seit heuer.
Schon während der Proteste im Jahr 2004 – als die Demonstranten auf dem Kiewer Unabhängigkeitsplatz Putins Mann in der Ukraine, Viktor Janukowitsch, zum ersten Mal zum Aufgeben zwangen, war man in Moskau über mögliche Folgewirkungen besorgt. Tatsächlich aber hat es die russische Opposition bis jetzt nicht geschafft, sich Gehör zu verschaffen. Anders als in der Ukraine oder Georgien sind die Vertreter einer Demokratisierung in Russland nicht nur in der Minderheit, das Wort Demokrat ist inzwischen zum Schimpfwort verkommen. Zum Teil hat Putin das Seinige dazu getan – aber nicht nur. Russlands Opposition besteht aus zersplitterten Grüppchen, die miteinander im Streit liegen. Putin hat in den 14 Jahren, seit er an der Macht ist, auf jede nur mögliche Art dafür gesorgt, die Opposition zu schwächen. Wer es wagte, gegen ihn aufzustehen, ist im Exil oder im Gefängnis. Die Mehrheit jener, die mit ihm nicht einverstanden sind, ist vorsichtig geworden in diesen 14 Jahren. Und Wladimir Putin weiß, dass man ihn fürchtet. Nicht so in der Ukraine.
Dort haben jene im Parlament die Mehrheit, die seine Politik ablehnen.
Susanne Scholl berichtete von 1992 bis 2009 für den ORF ausMoskau und lebt jetzt als freie Journalistinund Schriftstellerin in Wien.
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