Salzburger Nachrichten

Russlands Justiz fällt Urteile ganz im Sinne der Machthaber

Seit dem Ukraine-Konflikt gibt es in Russland eine Reihe von politische­n Verfahren, die jenen zu Sowjetzeit­en in nichts nachstehen.

- Susanne Scholl berichtete von 1992 bis 2009 für den ORF aus Moskau und lebt jetzt als freie Journalist­in und Schriftste­llerin in Wien. WWW.SALZBURG.COM/SCHOLL

Swetlana Dawidowna ist Mutter von sieben Kindern. Das jüngste, eine Tochter, ist ein paar Monate alt. Dawidowna lebte in der westrussis­chen Kleinstadt Wjasma gegenüber einem Militärstü­tzpunkt. Eines Tages beobachtet­e sie, wie die Soldaten und ihre Waffen auf Lastwagen verladen wurden und wegfuhren. Der Krieg in der Ukraine war in vollem Gang, die Propaganda­maschineri­e ebenfalls. Russland behauptete lautstark, es gebe keine russischen Soldaten in der Ukraine. Doch jetzt wurde der Militärstü­tzpunkt in Wjasma geräumt, und Swetlana Dawidowna vermutete, dass die Soldaten in die Ukraine gebracht würden. Also rief sie kurz entschloss­en in der ukrainisch­en Botschaft in Moskau an und teilte dort ihre Beobachtun­gen mit. Nach einiger Zeit wurde die junge Mutter, die ihr jüngstes Kind noch stillte, verhaftet und nach Moskau ins Lefortowo-Gefängnis gebracht. Als Grund wurde Vaterlands­verrat angegeben.

In Lefortowo befinden sich auch andere in ähnlicher Lage: Nachdem Russland die Krim annektiert hatte, wurde der ukrainisch­e Filmregiss­eur Oleg Sentsow verhaftet – und unter Terrorankl­age nach Moskau gebracht. Sentsow war an Maidan-Protesten beteiligt, und er war auch gegen die Annexion der Krim aufgetrete­n.

Und dann ist da noch die ukrainisch­e Hubschraub­erpilotin Nadja Sawtschenk­o, die ebenfalls in Lefortowo gefangen gehalten wird. Der Vorwurf: Sie sei an der Ermordung zweier russischer Journalist­en in der Ostukraine beteiligt gewesen. Tatsächlic­h wurde sie wohl von prorussisc­hen Separatist­en gefangen genommen und an die russischen Behörden übergeben.

Alle drei Fälle zeigen mehr als deutlich, wer in der Ostukraine tatsächlic­h Krieg führt. Im Fall der jungen Mutter grenzt die Anklage schon deshalb ans Absurde, weil es offiziell nach wie vor keine direkte russische Beteiligun­g an den Kämpfen in der Ostukraine gibt, womit der Vorwurf des Vaterlands­verrats aus der Luft gegriffen scheint. Abgesehen davon ist es eine Ungeheuerl­ichkeit, eine stillende Mutter kurzerhand von ihrem Säugling wegzuholen. Im Fall des Regisseurs Sentsow und der Pilotin Sawtschenk­o wiederum handelt es sich um staatlich sanktionie­rte Entführung­en, da beide ukrainisch­e Staatsbürg­er sind.

Das Rechtssyst­em Russlands befindet sich seit Putins Machtübern­ahme zunehmend unter dem Einfluss des Kremls. Urteile werden nicht nach dem Gesetz gefällt, sondern danach, was den Machthaber­n genehm ist. Das erinnert besorgnise­rregend an alte Sowjetzeit­en. Das darf niemand vergessen, der mit Russland im Gespräch bleibt.

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Susanne Scholl

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