Die Sehnsucht nach dem alten Hut
Zu seinem 100. Geburtstag ist Frank Sinatra kein Fall fürs Archiv. Sein Stil setzt wieder Trends. Überall feiert Nostalgie ein Comeback. Woher kommt das Sehnen nach alten Zeiten?
Im Jahr 2015 müssen Fans von Frank Sinatra keine Angst mehr haben, etwas zu versäumen: Eine Multimedia-App fürs Handy hält über Neuauflagen seiner Songs auf dem Laufenden und auch über alle Buchveröffentlichungen, Dokus und Ausstellungen, die ein großes Jubiläumsjahr so mit sich bringt. Doch dass Frank Sinatras Musik zum 100. Geburtstag des Entertainer-Königs (1915–1998) heute wieder allgegenwärtig ist, hat vordergründig weniger mit der Smartphone-Ära zu tun als mit einer Sehnsucht nach früher. In vielen Lebensbereichen rollt eine starke Nostalgiewelle. Popstars wie Robbie Williams, Annie Lennox oder Lady Gaga haben wieder den Swing für sich entdeckt. Und auch in der Mode, bei Fahrrädern oder an Instagram-Fotos lässt sich ablesen, wie universell einsetzbar Retrotrends sind. „Nostalgie hat derzeit Hochkonjunktur“, sagt Sabine Sielke. Die deutsche Wissenschafterin untersucht im Rahmen eines interdisziplinären Forschungsnetzwerks, warum der Wunsch, die vermeintlich guten alten Zeiten aufleben zu lassen, so stark erscheint – und wie er mit unserem Ankommen in der digitalen Gegenwart zusammenhängen könnte. SN: Nostalgiker hatten lange Zeit nicht den besten Ruf. Heute ist Nostalgie in vielen Bereichen enorm in Mode. Woher kommt dieser Wandel? Sielke: Ursprünglich war Nostalgie ein medizinischer Begriff. Mit ihm beschrieb der Arzt Johannes Hofer im 17. Jahrhundert die Symptome von Söldnern, die in der Ferne vermeintlich an Heimweh zugrunde gingen: Nostalgie galt bis ins 18. Jahrhundert als tödliche Krankheit. Erst allmählich wurde das Wort dann als ein ästhetisches Phänomen verstanden. Deshalb hatte auch Nostalgie wohl lange Zeit etwas Pathologisches. Daran hat sich aber viel geändert: Retro ist Kult geworden. Und ein Merkmal der heute allgegenwärtigen Retrotrends ist, dass die Menschen meist sehr spielerisch mit ihnen umgehen. SN: Im Duden steht, dass Nostalgie immer auch mit einem Unbehagen an der Gegenwart zu tun hat. In einer Zeit, die von vielen Unsicherheiten geprägt ist, feiert sie also nicht zufällig ein Comeback? Eine unserer Thesen ist, dass Nostalgiewellen vor allem dann auftreten, wenn sich das Leben zu beschleunigen scheint. Und das erleben wir derzeit durch die digitalen Techniken. Wenn rundherum alles schnelllebiger wird und ich die hundertste E-Mail am besten schon gestern hätte beantworten sollen, dann kann Nostalgie ein Mittel sein, mit dem man versucht, die Zeit stillstehen zu lassen oder eine Art alternative Zeit zu schaffen. Die hat al- lerdings mit der tatsächlichen Vergangenheit oft viel weniger zu tun, als es scheint. SN: Die Nostalgie führt eher in eine schöne Scheinwelt? Sie ist zumeist eine Erinnerung an eine Zeit, die es so gar nie gegeben hat. Frank Sinatra ist als großer Star der 1950er-Jahre dafür ein gutes Beispiel. In den USA war das eine Zeit strenger gesellschaftlicher Konventionen und auch eines politischen Konformismus: Während der McCarthy-Ära wurden Kommunisten und Homosexuelle verfolgt. Und in Deutschland war die Nachkriegszeit sicher keine Ära, in die man sich zurückwünschen wollte. Aber gleichzeitig werden die 50erJahre in Krisenzeiten gerne als eine Dekade des wirtschaftlichen Aufschwungs und der Zukunftshoffnungen idealisiert.
Eine Nostalgiewelle funktioniert eben immer über ganz bestimmte Affekte, die sie hervorruft oder vielleicht sogar erst schafft. Und dafür eignet sich eine schillernde Figur wie Sinatra natürlich sehr gut. SN: Frank Sinatras Entertainer-Kollege Tony Bennett ist mittlerweile gemeinsam mit Lady Gaga die neueste Werbeikone des Modekonzerns H&M. Mit Nostalgie lassen sich also auch gute Geschäfte machen? Ich fand es auch bemerkenswert, dass ein Popstar wie Lady Gaga ein Album mit einer Swing-Legende aufnimmt. Nostalgie ist ein großer Marktschlager geworden, unter anderem deshalb, weil sich über Retrostile auch alle möglichen Gefühle modellieren lassen.
So kann man auch eine Generation erreichen, die diese Zeit selbst gar nie erlebt hat. Zu der TV-Serie „Mad Men“(die in der Lebenswelt der 1960er-Jahre spielt, Anm.) gibt es etwa eine ganze Modekollektion zu kaufen.
Retrotrends muss man auch als Phänomen der Warenkultur betrachten. Dann sind sie eine Methode, um Konsumenten Dinge zu verkaufen, die sie vielleicht gar nicht brauchen oder eigentlich schon besitzen. Aber wenn es den Toaster plötzlich wieder im Retrodesign gibt, kauft man ihn vielleicht trotzdem noch einmal. Allerdings darf er nur alt aussehen, die Technik muss natürlich neu sein! SN: So wie bei Handykameras, die erlauben, digitale Fotos auf Knopfdruck mit einer nostalgischen Patina zu versehen? Ja, das ist ein interessanter Aspekt dieses Themas: Viele Nostalgieeffekte könnten wir ohne moderne Technik gar nicht erzeugen.
Die Vorstellung, Zeit konservieren zu können, ist von vornherein stark mit Reproduktionstechnologien verbunden. Die Fotografie war so gesehen immer ein Parademedium für Nostalgie: Mit einem Bild versucht man ein Stück Zeit festzuhalten, das eigentlich schon wieder verschwunden ist. Sicher hat die Fotografie auch deshalb im 19. Jahrhundert eine solche Faszination auf die Menschen ausgeübt. Und heute können wir auf dem Handy oder auf Instagram eben auch noch einen Sepia-Stich drüberlegen.