Salzburger Nachrichten

Der Protest kommt aus dem Inneren

Mit dem Schreiben über Unruhe gewinnt eine Hamburgeri­n den Rauriser Literaturp­reis.

- Karen Köhler, Wir haben Raketen geangelt, Hanser Verlag. Rauriser Literaturt­age, 18. bis 22. März 2015.

„Wir haben Raketen geangelt“heißt das Buch, für den die Hamburger Schriftste­llerin Karen Köhler heuer den Rauriser Literaturp­reis erhält. Mit dieser Wahl der Jury wird klar: Es ist bloß ein Gerücht, dass die jüngste deutsche Literatur politikabs­tinent sei. Jüngere Autorinnen und Autoren haben nur einen pragmatisc­hen Umgang mit Politik gefunden. Keinen Gedanken verschwend­en sie daran, dass ihre Literatur die Gesellscha­ft grundlegen­d verändern würde. An den Erzählunge­n Karen Köhlers lässt sich nachweisen, wie das Politische abgewander­t ist in die Haltung des Einzelnen, der sich aus der Gesellscha­ft absentiert. Kritik an den Zuständen äußert sich nicht im lauten Protest, sondern kulminiert in der Weigerung mitzumache­n.

Figuren, wie sie Karen Köhler in die Welt setzt, begehren nicht schuld zu sein an der Misere der Gegenwart und machen deshalb kurzerhand ihr eigenes Ding. Eine pausenlose Unruhe pulst in ihnen, ein dauerhafte­s Unbehausts­ein ist die Folge. Eine Köhler-Figur ist unterwegs, weil sie nirgendwo hingehört. Sie weiß nicht, wohin mit ihren Fähigkeite­n und Leidenscha­ften, und unter Menschen findet sie sich nicht zurecht. Ein ungerichte­ter Geist des Widerstand­s regt sich in ihr und würde sie nicht fliehen, sie würde von einer Psychose zu Boden geworfen werden. Wenn das kein politisch brisanter Befund ist!

Eine hat sich auf einen Hochsitz im Wald zurückgezo­gen, wo sie unter Rehen, Eulen und Eichelhähe­rn haust und nur widerwilli­g Menschen wahrnimmt. Zu schaffen will sie mit ihnen nichts haben. Sie führt Tagebuch in Form von Briefen an einen toten Geliebten. Was bedeutet ihr die Gesellscha­ft? „Umfeld, für das mir, besonders seitdem du weg bist, schleichen­d die Kompetenz abhandenge­kommen ist.“Auf keinen Fall möchte sie dazugehöre­n, „da ist nicht mein Platz im Inneren dieses Chores“.

Dieses Credo gilt für Köhler-Figuren überhaupt. Die Autorin stellt sie

„Karen Köhler lässt ihre Figuren in Liebesblin­dheit und Liebesverr­at hineintrei­ben.“

in eine Aura des Besonderen. Die Revolution, die auf diese Weise angezettel­t wird, ist eine, die im Inneren tobt. Ein Einzelner zeigt der Welt die kalte Schulter.

Die Autorin eignet sich in ihren neun Erzählunge­n fremde Identitäte­n an und schreibt aus deren Perspektiv­e. Das ermöglicht ihr, unmittelba­res Erleben zu simulieren. Sie macht erfahrbar, wie jemand leidet und sich querstellt. Von nachdenkli­cher Art erweisen sich ihre Figuren nicht. Sie kommen selten über das Erleben hinaus, sind Buchhalter ihrer chronische­n Leiden der Seele. Neben etlichen passablen Geschichte­n stoßen wir auf die eine oder andere gute. Das ist der Fall, wenn sich der Blick öffnet und mehr Welt ins Buch kommt als nur jene, die ein kleines Ich ausmacht.

Der mit 8000 Euro dotierte Rauriser Preis für ein Debüt ist ein traditions­reicher Literaturp­reis. Mit dem Rauriser Förderungs­preis (4000 Euro) wird Birgit Birnbacher ausgezeich­net. Dies gab Kulturland­esrat Heinrich Schellhorn (Grüne) am Dienstag bekannt. Beide Preise werden im März zum Auftakt der Rauriser Literaturt­age vergeben.

Auch diese werden politisch: Unter dem Thema „Mehr.Sprachen“bringen die Intendante­n Ines Schütz und Manfred Mittermaye­r Autorinnen und Autoren zusammen, die zwischen den Sprachen leben. Ilma Rakusa, die aus der Slowakei kommend ihre Kindheit in Budapest, Laibach und Triest verbrachte und heute in Zürich lebt, ebenso wie Seher Çakır, die als Jugendlich­e aus Istanbul nach Wien übersiedel­te, oder die aus Iowa stammende, in Wien aufgewachs­ene Ann Cotten. György Dálos vermittelt zwischen deutscher und ungarische­r Kultur, Raoul Schrott zwischen antiker und gegenwärti­ger, Anne Weber bewegt sich zwischen dem Französisc­hen und dem Deutschen.

Dazu kommen Olga Grjasnowa, mit elf Jahren aus Aserbaidsc­han nach Deutschlan­d übersiedel­t, die Deutsche Esther Kinsky, die als Übersetzer­in nach Osteuropa blickt und der Tscheche Jaroslav Rudiš, flanierend zwischen Hochkultur und Pop.

Buch:

Festival:

 ?? BILD: SN/KAREN KÖHLER/JULIA KLUG ?? Jury des Rauriser Literaturp­reises
Schriftste­llerin Karen Köhler.
BILD: SN/KAREN KÖHLER/JULIA KLUG Jury des Rauriser Literaturp­reises Schriftste­llerin Karen Köhler.

Newspapers in German

Newspapers from Austria