Der Protest kommt aus dem Inneren
Mit dem Schreiben über Unruhe gewinnt eine Hamburgerin den Rauriser Literaturpreis.
„Wir haben Raketen geangelt“heißt das Buch, für den die Hamburger Schriftstellerin Karen Köhler heuer den Rauriser Literaturpreis erhält. Mit dieser Wahl der Jury wird klar: Es ist bloß ein Gerücht, dass die jüngste deutsche Literatur politikabstinent sei. Jüngere Autorinnen und Autoren haben nur einen pragmatischen Umgang mit Politik gefunden. Keinen Gedanken verschwenden sie daran, dass ihre Literatur die Gesellschaft grundlegend verändern würde. An den Erzählungen Karen Köhlers lässt sich nachweisen, wie das Politische abgewandert ist in die Haltung des Einzelnen, der sich aus der Gesellschaft absentiert. Kritik an den Zuständen äußert sich nicht im lauten Protest, sondern kulminiert in der Weigerung mitzumachen.
Figuren, wie sie Karen Köhler in die Welt setzt, begehren nicht schuld zu sein an der Misere der Gegenwart und machen deshalb kurzerhand ihr eigenes Ding. Eine pausenlose Unruhe pulst in ihnen, ein dauerhaftes Unbehaustsein ist die Folge. Eine Köhler-Figur ist unterwegs, weil sie nirgendwo hingehört. Sie weiß nicht, wohin mit ihren Fähigkeiten und Leidenschaften, und unter Menschen findet sie sich nicht zurecht. Ein ungerichteter Geist des Widerstands regt sich in ihr und würde sie nicht fliehen, sie würde von einer Psychose zu Boden geworfen werden. Wenn das kein politisch brisanter Befund ist!
Eine hat sich auf einen Hochsitz im Wald zurückgezogen, wo sie unter Rehen, Eulen und Eichelhähern haust und nur widerwillig Menschen wahrnimmt. Zu schaffen will sie mit ihnen nichts haben. Sie führt Tagebuch in Form von Briefen an einen toten Geliebten. Was bedeutet ihr die Gesellschaft? „Umfeld, für das mir, besonders seitdem du weg bist, schleichend die Kompetenz abhandengekommen ist.“Auf keinen Fall möchte sie dazugehören, „da ist nicht mein Platz im Inneren dieses Chores“.
Dieses Credo gilt für Köhler-Figuren überhaupt. Die Autorin stellt sie
„Karen Köhler lässt ihre Figuren in Liebesblindheit und Liebesverrat hineintreiben.“
in eine Aura des Besonderen. Die Revolution, die auf diese Weise angezettelt wird, ist eine, die im Inneren tobt. Ein Einzelner zeigt der Welt die kalte Schulter.
Die Autorin eignet sich in ihren neun Erzählungen fremde Identitäten an und schreibt aus deren Perspektive. Das ermöglicht ihr, unmittelbares Erleben zu simulieren. Sie macht erfahrbar, wie jemand leidet und sich querstellt. Von nachdenklicher Art erweisen sich ihre Figuren nicht. Sie kommen selten über das Erleben hinaus, sind Buchhalter ihrer chronischen Leiden der Seele. Neben etlichen passablen Geschichten stoßen wir auf die eine oder andere gute. Das ist der Fall, wenn sich der Blick öffnet und mehr Welt ins Buch kommt als nur jene, die ein kleines Ich ausmacht.
Der mit 8000 Euro dotierte Rauriser Preis für ein Debüt ist ein traditionsreicher Literaturpreis. Mit dem Rauriser Förderungspreis (4000 Euro) wird Birgit Birnbacher ausgezeichnet. Dies gab Kulturlandesrat Heinrich Schellhorn (Grüne) am Dienstag bekannt. Beide Preise werden im März zum Auftakt der Rauriser Literaturtage vergeben.
Auch diese werden politisch: Unter dem Thema „Mehr.Sprachen“bringen die Intendanten Ines Schütz und Manfred Mittermayer Autorinnen und Autoren zusammen, die zwischen den Sprachen leben. Ilma Rakusa, die aus der Slowakei kommend ihre Kindheit in Budapest, Laibach und Triest verbrachte und heute in Zürich lebt, ebenso wie Seher Çakır, die als Jugendliche aus Istanbul nach Wien übersiedelte, oder die aus Iowa stammende, in Wien aufgewachsene Ann Cotten. György Dálos vermittelt zwischen deutscher und ungarischer Kultur, Raoul Schrott zwischen antiker und gegenwärtiger, Anne Weber bewegt sich zwischen dem Französischen und dem Deutschen.
Dazu kommen Olga Grjasnowa, mit elf Jahren aus Aserbaidschan nach Deutschland übersiedelt, die Deutsche Esther Kinsky, die als Übersetzerin nach Osteuropa blickt und der Tscheche Jaroslav Rudiš, flanierend zwischen Hochkultur und Pop.
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