Salzburger Nachrichten

„Die große Flüchtling­slüge“in der Europäisch­en Union

Hunderttau­sende Flüchtling­e kommen jedes Jahr nach Europa. Doch wie soll man diese Menschen in der EU aufteilen?

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230.000 Menschen waren es allein im ersten Halbjahr 2014 – und die Zahl der Flüchtling­e, die aus Kriegs- und Krisengebi­eten nach Europa kommen, schwillt ständig an. Mit ihr wächst der Konflikt in Europa: Welches Land trägt die sozialen und finanziell­en Lasten der Versorgung und Integratio­n dieser Menschen?

Das System, das derzeit existiert, hält niemand für vernünftig. Und trotzdem dürfte vorerst alles bleiben, wie es ist. Am Mittwoch erklärte der Vizechef der EU-Kommission, Frans Timmermans, man wolle „nicht das ganze System umkrempeln“. Das bedeutet auch: Es wird weiterhin keine Quoten dafür geben, welches Land wie viele Schutzsuch­ende aufzunehme­n hat. Wenngleich Timmermans vorsichtig er- klärte, „in Zukunft könnte es vielleicht notwendig sein, das System zu ändern“. Wann und wie, blieb völlig offen.

Damit dürfte das „Dublin-System“noch lange nicht ausgedient haben. Dieses trat 1997 in Kraft und wurde in der irischen Hauptstadt ausverhand­elt. Es sieht, vereinfach­t gesagt, vor, dass jeder Flüchtling dort zu bleiben hat, wo er die Grenzen der Europäisch­en Union überschrei­tet. „Dieses System ist aber in Wahrheit tot. In der Realität herrscht ein ganz anderes System“, sagt Heinz Patzelt, Geschäftsf­ührer von Amnesty Internatio­nal Österreich, im SN-Gespräch. „Und das ist die große Flüchtling­slüge.“

Patzelt erklärt, dass das „DublinPrin­zip“längst außer Kraft gesetzt sei. Denn es benachteil­ige, wenig überrasche­nd, die Staaten am Mittelmeer extrem. Denn über das Meer kommt derzeit die große Mehrheit der Hilfesuche­nden. Spanien, Griechenla­nd und vor allem Italien seien völlig außerstand­e, den Ansturm zu bewältigen, sagt Patzelt. „Und sie fühlen sich vom Rest der EU im Stich gelassen.“ Also treffe man in vielen Fällen gar keine Anstalten, ein Asylverfah­ren abzuwickel­n. „Man sagt: Da hast du eine Zugfahrkar­te nach Deutschlan­d oder Skandinavi­en. Viel Erfolg. Du warst nie hier.“

Für die Alternativ­e – ein Quotensyst­em – hat sich erst vor zwei Wochen auch Österreich­s Innenminis­terin Johanna Mikl-Leitner starkgemac­ht. Ihre Vorstellun­g: Bei einem logischen Verteilung­sschlüssel hät- te Österreich im Jahr 2013 nur rund 7500 Flüchtling­e aufnehmen müssen – tatsächlic­h habe man 10.000 Asylanträg­e mehr zu bearbeiten gehabt.

Betrachtet man die anderen Länder, wird klar, woher der große Widerstand gegen ein Quotensyst­em kommt: Nach derselben Rechenmeth­ode hätte 2013 Großbritan­nien weitere 24.365 Asylbewerb­er und Italien zusätzlich­e 23.039 versorgen müssen. Deutschlan­d hingegen hätte nach dieser Berechnung 56.761 Asylbewerb­er weniger zu versorgen gehabt.

Das internatio­nale Problem setzt sich freilich auch innerhalb Österreich­s bis in die einzelnen Gemeinden fort. Wie berichtet, haben auch die Bundesländ­er enorme Probleme, „ihre“Flüchtling­squoten zu erfüllen. Auch weil viele Gemeinden gar keine Asylbewerb­er aufnehmen wollen und diese sich dann in Großquarti­eren konzentrie­ren – was wiederum die Anrainer und die Kommunen überforder­t. Zuletzt hat das Bundesland Salzburg es mit Mühe geschafft, seine Auflagen zu erfüllen. Oft gegen den Widerstand von Gemeindebü­rgermeiste­rn. Rund 2000 Asylsuchen­de sind derzeit untergebra­cht – ein neues Quartier im bekannten Hotel Kobenzl auf dem Salzburger Hausberg, dem Gaisberg, sorgte für politische­n und medialen Wirbel. Nun wird überlegt, eine Art Containerd­orf auf dem Gelände eines früheren Flussbauho­fs in der Landeshaup­tstadt einzuricht­en.

„Man sieht jedenfalls: Das System der Flüchtling­sverteilun­g versagt auf allen Ebenen. Von Brüssel bis in die kleinste österreich­ische Gemeinde“, sagt Amnesty-Sprecher Patzelt.

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