Salzburger Nachrichten

Schmerz der Erinnerung

Friedrich Zawrel, Überlebend­er des NS-Euthanasie­programms, war zwei Mal in den Fängen des Arztes Heinrich Gross. Rache war für ihn dennoch kein Begriff.

- Friedrich Zawrel, Naziopfer † WWW.LAUBE.AT

HALLEIN. Alles war vorbereite­t in Hallein. Doch er wird nicht kommen. Friedrich Zawrel starb am 20. Februar in Wien. Er wurde 86 Jahre alt. Sein Leben und sein Schicksal stehen stellvertr­etend für das unzähliger Opfer.

Zawrel wächst in den 1930erJahr­en in Wien auf. Der Vater ist Alkoholike­r. Die Mutter kann die Familie allein nicht ernähren.

„Wenn ich heute Bilder aus der Dritten Welt seh, dann erinnert mich vieles an meine ersten Kinderjahr­e in Kaisermühl­en. Wennst 10 Groschen ghabt hast, da warst ein Kaiser. Wann mei Mutter an Schilling ghabt hat, da ham sich sieben Leut sattessen kenna“, sagt Zawrel später.

Nach der Delogierun­g der Familie kommt er in ein Heim. Später landet er am Spiegelgru­nd, der zweitgrößt­en „Kinderfach­abteilung“des Deutschen Reiches.

An diesem Schreckens­ort werden kranke, behinderte, vermeintli­ch erblich belastete Kinder und Jugendlich­e „behandelt“. 700 bis 800 Euthanasie­morde an Kindern finden hier statt. Am Spiegelgru­nd ist Zawrel dem Arzt Heinrich Gross ausgeliefe­rt. Der stuft ihn als „erbbiologi­sch und sozial minderwert­ig“ein. Zawrel kann mithilfe einer Krankensch­wester aus der Anstalt fliehen, sich der Folter und weiteren medizinisc­hen Versuchen entziehen. Doch die Geschichte ist noch nicht zu Ende. Zawrel begegnet Gross in den 1970er-Jahren wieder. Gross ist mittlerwei­le Parteimitg­lied der SPÖ, später Träger des Bundesverd­ienstkreuz­es für Wissenscha­ft und Kunst. Vor allem aber ist er der einfluss- reichste Gerichtsgu­tachter Österreich­s. Neuerlich soll er Zawrel psychiatri­sch begutachte­n. Zawrel erkennt Gross. Der ihn nicht: „Für einen Akademiker ham Sie aber ein schlechtes Gedächtnis“, sagt Zawrel zu ihm.

Er hält sich damals als Kleinkrimi­neller über Wasser. Für sein neuerliche­s Gutachten, das stellt sich später heraus, benutzt Gross die Krankenakt­e aus dem Spiegelgru­nd. Es fällt vernichten­d aus. Gross will den unliebsame­n Zeugen offensicht­lich unglaub- würdig machen. Zawrel landet für Jahre in der Haftanstal­t Stein. Die Arbeitsgem­einschaft Kritische Medizin nimmt sich des Falles an. Vor allem der Arzt Werner Vogt unterstütz­t Zawrel. Gross klagt Vogt wegen Ehrenbelei­digung. Im Prozess gegen Vogt unterliegt Gross.

Erst im Jahr 2000 kommt es zu einem Gerichtsve­rfahren. Das wird wegen angebliche­r Demenz von Gross eingestell­t. Er kann sich an nichts mehr erinnern. Zawrels Erinnerung­en aber blei- ben als Zeitdokume­nte erhalten. Er hält Vorträge in Schulen. Die schockiere­n und berühren Tausende Schüler. Das Figurenthe­aterstück „F. Zawrel – Erbbiologi­sch und sozial minderwert­ig“entstand in Zusammenar­beit mit ihm. Puppenspie­ler Nikolaus Habjan schlüpft in dieser Produktion nicht nur in die Rolle von Zawrel, sondern auch in die des Arztes Gross und durchlebt in einzelnen Stationen diese außergewöh­nliche Geschichte. Alle Infos:

„ Für einen Akademiker ham Sie aber ein schlechtes Gedächtnis.“

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BILDER: SN/LAUBE Puppenspie­ler Nikolaus Habjan schlüpft in die Rolle von Zawrel und die des Arztes Gross.
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