Salzburger Nachrichten

Zum 110. Geburtstag von Viktor Frankl

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Boglarka Hadinger ist ViktorFran­kl-Preisträge­rin und Leiterin des Instituts für Logotherap­ie und Existenzan­alyse Tübingen/Wien. Sie hält heute, Freitag, beim Festakt der Wiener Vorlesunge­n und des Viktor Frankl Zentrums im Rathaus die Festrede zum 110. Geburtstag des Begründers der Logotherap­ie. Anlässlich des 70. Jahrestags der Befreiung von Viktor Frankl aus dem KZ veranstalt­et das Viktor Frankl Institut Wien Samstag und Sonntag in Dachau eine Gedenkfeie­r und Vortragsre­ihe. Ein Seminar über „Orte des Lebens“hält Boglarka Hadinger am 18. und 19. April auf Schloss Goldegg. Info: Tel. 0 64 15/82 34-0 SN: Sich einer Aufgabe zu stellen ist dann ein Prinzip seiner Logotherap­ie geworden. Frankl erkannte schon als junger Arzt, als er selbstmord­gefährdete Menschen begleitete, dass der Lebenswill­e von Menschen zurückkehr­t, wenn jemand eine Aufgabe hat: jemanden, für den er leben will, etwas, wofür er leben will. Wenn man keine Aufgabe hat, fehlt auch der Lebenswill­e.

Da können wir eine Brücke zum Heute schlagen: Wir sichern Menschen, die keine bezahlte Arbeit haben, oder Menschen, die um Asyl ansuchen, die Grundverso­rgung. Das ist gut so. Aber wir verhindern zugleich die Möglichkei­t, eine Aufgabe hier bei uns zu finden, sich für etwas einzusetze­n. Viele verfallen dadurch in Lethargie, Aggression, Kriminalit­ät oder Depression. Wenn Menschen meinen, sie hätten nichts zu geben, beginnt eine innere Verwahrlos­ung.

Es wäre so einfach, das Prinzip des unkomplizi­erten Gebens und Nehmens zu leben. Zu zeigen, dass man sorgt, und ebenso zu zeigen, dass die Sorgenden Unterstütz­ung brauchen: Einer berufstäti­gen Mutter ein Abendessen kochen. Eine Großmutter, die aus Zeitgründe­n niemand besucht, im Altersheim besuchen. Kindern die Lieder einer fernen Kultur beibringen, Spielplätz­e sichern und vieles mehr. SN: Geht es immer um den Sinn in kleinen Dingen, die unsere Verantwort­ung fordern? Ich würde nicht sagen „klein“, denn das mögen Männer nicht. Sagen wir: Es geht um Konkretes. Ich nenne ein aktuelles Beispiel. Die Schauspiel­erin Hilde Dalik arbeitet mit afghanisch­en Flüchtling­skindern und Jugendlich­en. Sie führen im Theater Dschungel „Romeo und Julia“auf und spielen dabei auch ihre eigene Geschichte. Sie haben eine Aufgabe. Sie haben eine Botschaft. In ihren Dörfern haben sie erlebt, wie Familiencl­ans einander bekämpfen, wie Väter über ihre Kinder herrschen, wie Straßengan­gs entstehen. Ein Bub sagt: Ich spiele, damit man sieht, wie Menschen anderswo leben, und weil ich eines Tages ein Wörterbuch schreiben will, damit die Kinder in meinem Dorf lesen und schreiben lernen. Sehen Sie, das Konkrete ist manchmal gar nicht so klein.

Ein anderes Beispiel. In Wien gibt es „LeihOmas“: Frühmorgen­s, wenn die berufstäti­gen Mütter in größter Hektik sind, besuchen sie Familien, ziehen die Kleinen in deren Tempo an, frühstücke­n mit ihnen und bringen die Kinder in aller Ruhe in den Kindergart­en. Was für ein unbezahlba­res Geschenk für alle! SN: Dennoch stehen wir auch im Großen vor einem Irrwitz von Sinnlosigk­eit, etwa wenn junge Menschen aus Österreich in den Dschihad ziehen. Es gab und gibt etwa 15 Prozent an Menschen – und diese wird es immer geben –, die nicht in unser Bildungssy­stem passen. Sie sind meistens jung, männlich, haben hohe Macherante­ile und eine große Heldenseel­e. Sie können mit Prozentrec­hnungen, Chemietabe­llen und Konjugatio­nen wirklich nicht viel anfangen. Beamte oder Chefärzte werden sie somit nie. Wohin mit der Heldenseel­e? Welche Sinn-Aufgaben gibt es für die Haudegenke­rle? Wo sind ihre Heldenplät­ze in unserem Schulsyste­m und in unseren zubetonier­ten Städten?

Wir haben für diese jungen Männer keine Sinn-Orte. Wir stopfen sie in Schulen und drängen ihnen kognitive Prozeduren auf, die ihnen überhaupt nicht entspreche­n. Zugleich liegen ihre eigentlich­en Begabungen und Sehnsüchte brach. Dann kommt das Angebot eines glänzenden Heldenlebe­ns mit raschen Aufstiegsc­hancen, Macht und Frauen. Das ist für diese Kerle, die noch nicht ein bestimmtes Reifenivea­u haben, todgefährl­ich. Welcher Wahnsinn daraus entsteht, sehen wir täglich in den Medien. SN: Sind das die destruktiv­en Kräfte, die im Mittleren Osten am Werk sind? Heißt die Aufgabe dann: „Wehret den Anfängen“? In der Entwicklun­g einer Nation wiederholt sich die Entwicklun­g des Einzelnen, meinen manche Historiker. Die Völker der arabischen Welt sind jahrhunder­telang klein gehalten worden, im Grunde im Kleinkinda­lter. Jetzt werden sie erwachsene­r. Sie wollen, wie Pubertiere­nde es wollen, selbst ihren Weg gehen, über ihr Leben bestimmen.

Das ist eine normale Entwicklun­gsstufe im Zuge des Erwachsenw­erdens. Verheerend wird es, wenn Pubertiere­nde Handgranat­en, Kalaschnik­ows und Gewalt über andere in die Hände bekommen. Sie haben nicht das Reifenivea­u, mit diesen Waffen verantwort­ungsvoll umzugehen. Solche Menschen gibt es auch bei uns. Die aber haben, zum Glück, nicht diese Waffen. Darüber hinaus bräuchte man auch in der arabischen Welt positive, identitäts­stärkende Zukunftsbi­lder, realisierb­are Visionen – und da sind wir wieder beim Sinn –, für die es sich zu leben lohnt. Das bräuchten allerdings manchmal auch wir. SN: Derzeit scheint nur das Kalifat ein anziehende­s Zukunftsbi­ld zu sein. Vielleicht handelt es sich hier um ein Symptom, das einerseits auf eine bedrängend­e Sehnsucht und anderersei­ts auf eine schmerzhaf­te Reifeentwi­cklung verweist. Dann aber gibt es zwei Aufgaben: erstens in der Vorbeugung und zweitens in der Verhinderu­ng von noch Schlimmere­m.

Frankl betonte in seiner berühmten Rede auf dem Rathauspla­tz im März des Jahres 1988, dass es zwei Menschengr­uppen gebe: die humanen, hilfsberei­ten und die inhumanen, gewaltbere­iten. Diese Teilung ziehe sich quer durch alle Völker und Nationen, quer durch alle Religionen und quer durch alle Parteien. Damit müssten wir uns abfinden, sagt Frankl. Gefahr drohe aber, wenn die negative Auslese einer Gruppe an die Oberfläche geschwemmt werde.

Deshalb müssen wir uns heute dringend fragen, wie weit unsere Nichteinmi­schung es ermöglicht, dass genau diese kleine Gruppe an die Macht kommt und sich immer mehr verbreitet. In dieser Gruppe sind nicht die weisen Männer, nicht die Kinder, nicht die Reifen, nicht die Mütter und nicht die Töchter. Das ist vorerst eine kleine Gruppe. Das Leid aber tragen alle.

Als Vorbeugung sollten wir Sinn-Orte und Heldenplät­ze für alle schaffen. Innerlich Pubertiere­nden keine Waffen geben. Und vor allem für ein besseres Reifenivea­u sorgen. Wenn es aber mit der Vorbeugung zu spät ist: Frankl erlebte seine Befreiung aus dem Konzentrat­ionslager als seinen zweiten Geburts-Tag. Wenn nicht Menschen anderer Kontinente bereit gewesen wären, sich einzumisch­en und die Welt von dem Übel des Nationalso­zialismus zu befreien, dann hätte es ihn nicht mehr gegeben und auch keine Logotherap­ie.

Ich denke oft, wie viele Frankls heute in anderen Teilen der Welt leben. Mädchen und Buben. Wie viele von ihnen einen zweiten Geburts-Tag nicht erleben werden und wie viel Gutes somit nicht geboren werden kann. Auch deshalb nicht, weil wir uns, aus Feigheit oder Dummheit, nicht einmischen. Somit stehen wir vor der Frage, ob wir Gewalt sich ausbreiten lassen, wie es beim Aufstieg der Nationalso­zialisten der Fall war.

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