Die Gutachter müssen „fair“bestellt werden
Verfassungsgerichtshof sagt: Berufungssystem für Gutachter im Strafprozess widersprach Waffengleichheit. OGH-„Altlasten“.
Kommt es nun etwa in großen Wirtschaftsverfahren, wo der Sachverständige eine entscheidende Rolle spielt (Telekom, Immofinanz, Hypo, Hannes Kartnig), zu Neuaufrollungen?
Das alles entscheidende Wort heißt: „Waffengleichheit.“Sie gilt laut der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) im Strafprozess als Kern des fairen Verfahrens, wenn es um das Verhältnis zwischen dem Ankläger und der Verteidigung geht.
Widerspricht es der „Waffengleichheit“, wenn der Staatsanwalt im Ermittlungsverfahren einen ganz bestimmten Sachverständigen bestellt, dessen Expertise dann der Anklage zugrunde legt und das Gericht ebendiesen Gutachter auch zum „Gerichtsgutachter“bestellt? Ohne, dass sich der Angeklagte dagegen wehren kann? Und das, obwohl der Angeklagte in diesem Sachverständigen einen „Zeugen der Anklage“sehen kann?
Bis Ende 2014 war diese Art der Bestellung eines Sachverständigen durch die Strafprozessordnung gedeckt. Zwar stand es dem Gericht frei, auch einen anderen Gutachter als jenen zu bestellen, der bereits vom Staatsanwalt beauftragt worden war – diese freie Auswahl wurde aber durch die in der StPO normierten Grundsätze der Sparsamkeit, Wirtschaftlichkeit und Zweckmäßigkeit eingeschränkt.
Diese Art der „Übernahme“des vom Staatsanwalt bestellten Gut- achters durch das Gericht wurde immer wieder als verfassungsrechtlich bedenklich kritisiert. Tatsächlich sind beim OGH mehrere Rechtsmittelverfahren anhängig, in denen genau diese Frage aufgeworfen wird. Drei solcher Nichtigkeitsbeschwerden führten den OGH dazu, beim Verfassungsgerichtshof (VfGH) die Änderung jener Teile der Strafprozessordnung zu beantragen, die demnach die Waffengleichheit verletzen und somit verfassungswidrig seien.
Nun hat der VfGH diesen Anträgen stattgegeben: Es gehe nicht an, dass eine Norm im Hauptverfahren dem Angeklagten von vornherein und ausnahmslos verbiete, den vom Staatsanwalt im Ermittlungsverfahren beauftragten Experten als befangen abzulehnen, wenn sich objektive Anhaltspunkte gegen dessen völlige Neutralität im Zuge des Ermittlungsverfahrens ergeben. Das Verfassungsgericht hält fest: Allein aus dem Grund, dass ein Gutachter bereits im Ermittlungsverfahren vom Staatsanwalt beigezogen wurde, sei er nicht generell von einer Bestellung durch das Gericht auszuschließen – eine allfällige Befangenheit sei vielmehr im Einzelfall zu prüfen.
Und weiters: Das nunmehrige Urteil in den drei Anlassfällen gelte auch für die Prüfung anderer beim OGH anhängiger Fälle, wo es um eine ähnliche Problematik geht.
Inzwischen hat Justizminister Wolfgang Brandstetter zwar eine Reform der Strafprozessordnung durchgebracht, die die Entscheidung des VfGH quasi „überholt“hat: Seit 1. Jänner 2015 können Beschuldigte auch selbst die Bestellung eines Sachverständigen für die gerichtliche Beweisaufnahme verlangen, wenn sie begründete Zweifel an der Unbefangenheit oder Sachkunde des vom Staatsanwalt bestellten Gutachters haben. Damit, so Brandstetter, sei dem Gebot der „Waffengleichheit“Rechnung getragen. Da sich die vom VfGH festgestellte Verfassungswidrigkeit (nach alter Rechtslage) aber auf alle beim OGH anhängigen Fälle bezieht, könnte es in vielen Fällen heißen: Zurück an den Start.