Holocaust-Überlebende sind in Israel in Armut
Juden, die den Holocaust überlebt haben, sind im Durchschnitt 83,3 Jahre alt. Wer wird erzählen, wenn sie verstummen?
TEL AVIV. Sein Vater überlebte die Schoah nur knapp. Dennoch überraschte es viele, wie energisch er die Not von Holocaust-Überlebenden zu einem zentralen Wahlkampfthema machte. Denn lange hatte sich kein israelischer Finanzminister so für dieses Thema engagiert wie der im Herbst entlassene Yair Lapid. Frisch im Amt sicherte er Holocaust-Überlebenden bereits umgerechnet 250 Mill. Euro zu. Dennoch geht es ihnen kaum besser. Jetzt, wo er keinerlei Hoffnungen mehr hegt, Teil der neuen Regierung zu werden, sagt er unverblümt: „Wir sprechen von einem kompletten staatlichen Versagen.“Denn von rund 190.000 Überlebenden im Land leben 45.000 unter der Armutsgrenze von 950 Euro im Monat. Ein Viertel von ihnen verzichtete 2014 aus finanziellen Gründen auf Medika- mente, ein Drittel ließ Mahlzeiten ausfallen. „Das ist das Resultat einer seit Jahrzehnten andauernden Vernachlässigung“, meint Lapid. Doch nicht nur um die Überlebenden steht es schlecht: Auch ihr Erbe wird im Land der Opfer 70 Jahre nach der Schoah heftig debattiert.
Das traditionelle Gedenken, bei dem die Opfer im Mittelpunkt standen, scheint überholt. Sie berichteten in Schulen, der Armee, auf offiziellen Zeremonien von ihren Erfahrungen, die so zum nationalen Bewusstsein wurden. Doch heute liegt das Durchschnittsalter der Überlebenden bei 83,3 Jahren, jedes Jahr sterben 14.200. So wird es immer schwieriger, jemanden zu finden, der kommenden Generationen die Vergangenheit näherbringen kann. Und so glauben mehr als 80 Prozent der Israelis, die Schoah werde bereits „in wenigen Jahren“zu einem „vagen historischen Ereig- nis werden“– wie andere Massaker der jüdischen Geschichte.
Lapid empört diese These. Die Schoah werde für Generationen „ein einschneidendes Ereignis in unserer Geschichte, unserem Bewusstsein bleiben“, sagt er. Israels Debatte über die Schoah ist auch Ausdruck einer Sehnsucht nach Normalität. Berlin ist beliebtes Reiseziel, wird oft als potenzieller Auswanderungsort gehandelt. Ein Drittel der Israelis meint, Deutschland trage keine besondere Verantwortung mehr für ihren Staat: „Manchmal habe ich Angst, dass unser Volk zu schnell Normalität will“, sagt Lapid, meint aber nicht das Verhältnis zu Deutschland. Schließlich habe Israel schon vor Jahrzehnten Deutschland „offiziell verziehen“. Doch auch 70 Jahre nach der Schoah „können viele noch immer nicht begreifen, dass man uns nicht hasst wegen dem, was wir tun, sondern wegen dem, wer wir sind“. Auch heute: „In Syrien sterben viel mehr Menschen als im israelisch-palästinensischen Konflikt. Dennoch hasst niemand die Syrer. Uns aber schon.“Israel sei nicht Ursache für zunehmenden Antisemitismus, sondern ein Alibi, das ihn über Israel-Kritik „salonfähig machen soll. Aber egal: Dieser Staat wurde nicht gegründet, um den Antisemitismus zu beenden, sondern um Juden die Möglichkeit zu geben, auf Antisemiten zu pfeifen.“
Dabei ignoriert der Staat eher Holocaust-Überlebende. Deren Armut ist aber nicht nur Resultat herzloser Politik. Nach Lapids Kurswechsel wurden sie Opfer von Machtkämpfen zwischen Ministerien und Organisationen, die für sie verantwortlich sind. Als das Finanzministerium Zuwendungen erhöhte, kürzten andere Ämter, unterm Strich blieb weniger Geld. Als Lapid soziale Dienste für Tausende öffnete, entstanden Engpässe und monatelange Wartezeiten. Überlebenden gebühre jedoch besondere Hilfe, denn „sie kamen mitten im Leben in unser Land und mussten bei null anfangen“, erklärt Lapid.