Ohne Wahrheit gibt es keinen Weg ins Freie
Empörung über Kritik aus dem Ausland hilft der Türkei nicht weiter. Ankara steuert mit dem Trotz beim Thema Armenier in die Sackgasse.
Natürlich ist jetzt genau das eingetreten, was die türkische Führung befürchtet hat. Ankara kommt 100 Jahre nach den Massakern an den Armeniern international unter Druck. Der Papst und das EU-Parlament fordern die Türkei strikt auf, die Verantwortung für diesen Völkermord zu übernehmen.
Leider ist nicht zu erwarten, dass die türkische Führung aufgrund dieser Stimmen von außen jetzt einlenkt. Präsident Erdoğan, der sich als Hüter nationaler Größe inszeniert, würde das als Gesichtsverlust empfinden. Statt die Schuld für die damals verübte Gewalt einzugestehen, tut der Staatschef alles, um davon abzulenken. Dass die Türkei ausgerechnet am Gedenktag der Armenier erstmals an die Schlacht von Gallipoli im Ersten Weltkrieg erinnern will, ist ein Versuch, Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit von den Anliegen der Armenier abzuziehen.
Ankara fällt damit zurück in frühere HardlinerPositionen. Immerhin hat Erdoğan selbst 2014 sein Bedauern über das Leiden der Armenier bekundet. Zwischen der Türkei und Armenien ist in den Jahren zuvor schon ein Prozess der Normalisierung in Gang gekommen. Nun nimmt Erdoğan den diplomatischen Eklat im Verhältnis zum Vatikan und eine weitere Entfernung von Europa in Kauf, wo das EU-Parlament die Anerkennung des Genozids durch die Tür- kei längst zu einer Bedingung für einen Beitritt des Landes erklärt hat.
Ankara fürchtet aber Reparationsforderungen der Armenier. Es will vermeiden, dass auf die Gründung der Türkischen Republik 1923 der Schatten eines monströsen Verbrechens fällt. Diese historische Altlast ist obendrein verknüpft mit der Gegenwart: Atatürk hat seine Republik als türkischen Nationalstaat konzipiert, weswegen die Kurden lange Zeit als „Bergtürken“abgestempelt und auch andere ethnisch-religiöse Minderheiten diskriminiert wurden.
Mit diesen türkischen Tabus tut die Führung dem Land keinen guten Dienst. Das Leugnen historischer Schuld wirkt stets giftig weiter – wie in Frankreich, wo das Algerien-Trauma heute hausgemachte Dschihadisten hervorbringt. In der Türkei ist ein Teil der Bevölkerung schon weiter als die offizielle Politik. Die Zivilgesellschaft hat eine kritische Auseinandersetzung mit der Armenierfrage begonnen. 100 türkische Intellektuelle – darunter Literaturnobelpreisträger Orhan Pamuk – formulierten 2014 zwei Forderungen an die Regierung: Sie solle die Schulbücher entfernen, die bisher die Geschichte falsch darstellen, und sie solle sich bei den Armeniern entschuldigen.