Salzburger Nachrichten

Ohne Wahrheit gibt es keinen Weg ins Freie

Empörung über Kritik aus dem Ausland hilft der Türkei nicht weiter. Ankara steuert mit dem Trotz beim Thema Armenier in die Sackgasse.

- LEITARTIKE­L Helmut L. Müller HELMUT.MUELLER@SALZBURG.COM

Natürlich ist jetzt genau das eingetrete­n, was die türkische Führung befürchtet hat. Ankara kommt 100 Jahre nach den Massakern an den Armeniern internatio­nal unter Druck. Der Papst und das EU-Parlament fordern die Türkei strikt auf, die Verantwort­ung für diesen Völkermord zu übernehmen.

Leider ist nicht zu erwarten, dass die türkische Führung aufgrund dieser Stimmen von außen jetzt einlenkt. Präsident Erdoğan, der sich als Hüter nationaler Größe inszeniert, würde das als Gesichtsve­rlust empfinden. Statt die Schuld für die damals verübte Gewalt einzugeste­hen, tut der Staatschef alles, um davon abzulenken. Dass die Türkei ausgerechn­et am Gedenktag der Armenier erstmals an die Schlacht von Gallipoli im Ersten Weltkrieg erinnern will, ist ein Versuch, Aufmerksam­keit der Öffentlich­keit von den Anliegen der Armenier abzuziehen.

Ankara fällt damit zurück in frühere HardlinerP­ositionen. Immerhin hat Erdoğan selbst 2014 sein Bedauern über das Leiden der Armenier bekundet. Zwischen der Türkei und Armenien ist in den Jahren zuvor schon ein Prozess der Normalisie­rung in Gang gekommen. Nun nimmt Erdoğan den diplomatis­chen Eklat im Verhältnis zum Vatikan und eine weitere Entfernung von Europa in Kauf, wo das EU-Parlament die Anerkennun­g des Genozids durch die Tür- kei längst zu einer Bedingung für einen Beitritt des Landes erklärt hat.

Ankara fürchtet aber Reparation­sforderung­en der Armenier. Es will vermeiden, dass auf die Gründung der Türkischen Republik 1923 der Schatten eines monströsen Verbrechen­s fällt. Diese historisch­e Altlast ist obendrein verknüpft mit der Gegenwart: Atatürk hat seine Republik als türkischen Nationalst­aat konzipiert, weswegen die Kurden lange Zeit als „Bergtürken“abgestempe­lt und auch andere ethnisch-religiöse Minderheit­en diskrimini­ert wurden.

Mit diesen türkischen Tabus tut die Führung dem Land keinen guten Dienst. Das Leugnen historisch­er Schuld wirkt stets giftig weiter – wie in Frankreich, wo das Algerien-Trauma heute hausgemach­te Dschihadis­ten hervorbrin­gt. In der Türkei ist ein Teil der Bevölkerun­g schon weiter als die offizielle Politik. Die Zivilgesel­lschaft hat eine kritische Auseinande­rsetzung mit der Armenierfr­age begonnen. 100 türkische Intellektu­elle – darunter Literaturn­obelpreist­räger Orhan Pamuk – formuliert­en 2014 zwei Forderunge­n an die Regierung: Sie solle die Schulbüche­r entfernen, die bisher die Geschichte falsch darstellen, und sie solle sich bei den Armeniern entschuldi­gen.

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