Ein Jahr voller Wunder
Ein Land wird „narrisch“und strikter Atomgegner. Bis heute prägen die WM in Argentinien und die Volksabstimmung über Zwentendorf das österreichische Bewusstsein.
vom Narrischwerden zu lesen. Euphorisiert über den ersten österreichischen Fußballsieg über Deutschland nach 47 Jahren ist auch er. „Krönender Abschluss mit Sieg über den Weltmeister“– so der Titel von Kumharts Artikel in der Ausgabe am Morgen nach dem legendären Spiel, und weiter: „Späte Genugtuung für Österreich. Mit einem sensationellen 3:2 gegen die BRD ist die rot-weißrote Mannschaft nunmehr in aller Munde.“
Vergeben ist der „Schlafwagenfußball“in der Vorrunde, in der Hans Krankl und Co. 0:1 gegen Brasilien verloren. Vergessen ist der „Sturz in die Bedeutungslosigkeit“in der Zwischenrunde nach dem 1:5 gegen die Niederlande und dem 0:1 gegen Italien. Ein Sieg gegen Deutschland wiegt mehr. „Wir wollen es all denen zeigen, die in Deutschland immer nur über uns Österreicher lächeln. Wir werden alles daran setzen, dass sie im selben Flugzeug mit uns nach Hause reisen müssen“, bringt es der spätere Teamchef und damalige Mittelfeldspieler Josef Hickersberger vor dem Anpfiff auf den Punkt.
Bei der WM ’78 in Argentinien geht es nicht nur um Sport, sondern auch um Politik. SN-Sportchef Kumhart wirft in einem Leitartikel die Frage auf, ob eine Großsportveranstaltung wie diese in einem Land stattfinden sollte, das seit zwei Jahren von einer Militärdiktatur beherrscht wird. Kumhart selbst beantwortet sie 1978 mit einem klaren Ja. Sport biete „die beste Gelegenheit (. . .) das völkerverbindende Klima zu verbessern.“
Dabei könnte Österreich 1978 auch innenpolitisch ein besseres Klima gut brauchen. Die Frage, ob das Atomkraftwerk in Zwentendorf in Niederösterreich in Betrieb genommen werden soll, entzweit die Parteien. Die ÖVP, die unter ihrer Alleinregierung 1969 den Startschuss für das Nuklearprogramm gegeben hatte, ist aus wahltaktischen Gründen nun dagegen, die SPÖ dafür. Ein Grund, weshalb SN-Chefredakteur Karl Heinz Ritschel die Volksabstimmung am 5. November – immerhin die erste in der Zweiten Republik – als bloßes „Wahlspiel“der Parteien kritisiert. Am Tag vor der Abstimmung schreibt er: „Der schleimigste, widerlichste und unnatürlichste Wahlkampf in der Geschichte der 60-jährigen Republik ist zu Ende gegangen.“
Mit einer hauchdünnen Mehrheit von 30.000 Stimmen (50,47 Prozent) besiegeln die Österreicherinnen und Österreicher zwar ihr „Nein zur Atomkraft“, wie die SN titeln. Allerdings geht damit keine „Niederlage der Regierung und Kreiskys“einher. Kanzler Bruno Kreisky (SPÖ) tritt entgegen anders lautender Ankündigung nicht nur nicht zurück. Er wird bei der Nationalratswahl ein halbes Jahr danach mit 51 Prozent das beste historische Ergebnis für die SPÖ einfahren.
Recht behalten werden die SN aber mit ihrem Befund, dass die Kür Karol Wojtylas, des Erzbischofs von Krakau, zum Papst als ein Zeichen der „Kraft der Kirche“zu werten sei. Mit ihm wird am 16. Oktober der erste Nichtitaliener seit 1523 zum Oberhaupt der katholischen Kirche gewählt. Papst Johannes Paul II. folgt Johannes Paul I. nach, der nach nur 33 Tagen im Amt starb. Er war am 6. August die Nachfolge des verstorbenen Papstes Pius VI. angetreten. 1978 wird deshalb als das Jahr der drei Päpste in die Geschichte eingehen. Es ist auch das erste, in dem ein Kind das Licht der Welt erblickt, das durch künstliche Befruchtung gezeugt wurde. Louise Joy Brown wird am 25. Juli geboren.