Wozu reicht ein Song?
Der Song Contest ist eine Bühne für Ländermatches und Nachbarschaftspolitik. Aber Popstars machen? Kann er das?
SALZBURG. Ganz am Ende stimmte Conchita Wurst noch „Waterloo“an. Im allgemeinen Sprachgebrauch werden mit dem Wort oft letzte, große Niederlagen umschrieben. Wenn es aber beim Song Contest auftaucht, dann ist klar: Es geht um einen Sieg. Mit „Waterloo“haben ABBA 1974 den Grand Prix gewonnen. Danach wartete die Weltkarriere. Conchita Wurst sang die Pophymne nun in London kürzlich gemeinsam mit einem ganzen Chor einstiger Gewinner. Johnny Logan dufte nicht fehlen, die Herreys waren dabei, Nicole, die Olsen Brothers und auch die mittlerweile 91jährige Lys Assia. Mit einer Greatest-Hits-Show wurde das 60-JahrJubiläum der Eurovision gefeiert. Assia hatte 1956 den allerersten Singbewerb gewonnen. Und die Feierlichkeiten gehen in London weiter: Kommenden Freitag werden die politischen, medialen und technischen Dimensionen des größten europäischen TV-Events bei einer international besetzten Tagung durchleuchtet. Und die Musik?
Die Londoner Show mit den größten Hits aus 60 Jahren wird der ORF am Vorabend des ESC-Finales ausstrahlen. Man könnte sie auch als Quiz betrachten: Wer kann noch den Refrain singen, mit dem Emmelie de Forest 2013 für Kopenhagen gewann? Und wie hieß gleich noch der Siegertitel aus dem Jahr 1984? Ein Mal im Jahr macht der Song Contest Europafragen zur Chefsache der Popkultur. Ob die Sieger sich auch in der freien Wildbahn der Hitparaden behaupten können, war hingegen in den vergangenen sechs Jahrzehnten oft eine andere Frage. Glaubt man den Absatzzahlen auf dem heimischen Musikmarkt, dann hieß der Star, der vom Song Contest am meisten profitierte, nicht Conchita Wurst.
Unter den zehn Singles, die sich in Österreich 2014 bei Verkäufen, Downloads und Streams am besten geschlagen haben, hatten Mitbewerber die Nase vorn. Mit ihrem Song „Calm After the Storm“hatten die niederländischen Common Linnets beim Song Contest hinter Wurst nur den zweiten Platz belegt. Die Ruhe nach dem Sturm wirkte zu ihren Gunsten: In der österreichischen Jahreshitparade erreichte die Single Platz 6. Der Phönix von Conchita Wurst landete auf Platz 19.
Wenn es um eine Länderwertung geht, dann hat die grüne, klingende Insel Irland die Nase weit vorn. Sieben Siege gab es. Den Iren gelang in den Jahren 1992, 1993 und 1994 das teure Kunststück, drei Mal en suite zu gewinnen und den Contest ausrichten zu müssen. Allerdings schaffte es nur Balladier Johnny Logan, dass seine Siege – 1980 mit „What’s Another Year“und 1987 mit „Hold Me Now“– zumindest vorübergehend internationale Charterfolge brachten. Der größte Weltstar mit einem Sieg beim Song Contest war Céline Dion. Bevor sie den Bewerb 1988 für die Schweiz gewann, war die Frankokanadierin vor allem in ihrer Heimat Kanada und Frankreich bekannt. Nach dem Grand Prix brachte ihr erstes englischsprachiges Album den Durchbruch zum Überstar.
Und freilich kommt eine Heldenliste des Song Contests – nicht bloß aus österreichischer Sicht bedeutend – nicht ohne Udo Jürgens aus. Bis zum Sieg 1966, bei seiner dritten Teilnahme, war er vor allem als Komponist für andere schon erfolgreich. „Merci Cherie“rückte ihn als Interpreten seiner eigenen Songs ins Rampenlicht. „Es folgten ausgedehnte Tourneen in alle Welt. In dieser Zeit nahm er Platten seiner Kompositionen in unterschiedlichen Sprachen auf“, steht lapidar in einem Interneteintrag über seine Karriere. Gemessen an Verkaufszahlen und der dauerhaften Präsenz aber lässt sich Jürgens nur mit zwei anderen Gewinnern, ABBA und Céline Dion, vergleichen. Nummer eins in den österreichischer Charts war er mit seinem Siegerlied nie: 1966 standen ihm auf dem Weg zur Chartspitze bloß die Beach Boys mit „Barbara Ann“im Weg.
Mit einigen Siegern aus den 1960er- und 1970er-Jahren und deren Post-Song-Contest-Karrieren lässt sich meist eine größere Nachhaltigkeit des Wettsingens belegen, als das heute der Fall ist. Ernsthaftigkeit und Einzigartigkeit dieses Ereignisses wirkten länger und leichter nach.
Das gilt neben Udo Jürgens auch für seine Vorgängerin France Gall oder seine Nachfolgerin Sandie Shaw. Im Gegensatz zu heute gelangen damals – auch in den noch übli- chen Übersetzungen – vielen der Teilnehmer über einen längeren Zeitraum noch Hits in ganz Europa. Heute verglüht der Starruhm oft schon am Tag nach dem Ereignis. Erst einmal richten sich alle Blicke auf den nächsten ESC-Sieger: Seit gestern, Dienstag, ist in der Wiener Stadthalle die Showbühne für den Song Contest 2015 fertig. Sie hat die Gestalt eines riesigen Auges.