„Buchhalter von Auschwitz“gesteht seine Mitschuld ein
70 Jahre nach dem Ende des Holocaust steht ein ehemaliger SS-Aufseher des Konzentrationslagers wegen Beihilfe zu Mord in 300.000 Fällen in Lüneburg vor Gericht.
Oskar Gröning ist heute 93 Jahre alt. Jahrzehntelang lebte er in der Lüneburger Heide mit Frau und Kindern ein bürgerliches Leben. Erst Mitte der 80er-Jahre öffnete er sich und berichtete in einer Dokumentation der britischen BBC über das, was er vier Jahrzehnte zuvor gesehen und getan hatte – in Auschwitz, dem zentralen Ort des Völkermords für die von den Nazis beschlossene „Endlösung der Judenfrage“.
Oskar Gröning kam nach Absolvierung einer Banklehre 1942 nach Auschwitz. Er war Freiwilliger der Waffen-SS und damals 21 Jahre alt. 1944 wechselte er auf eigenen Wunsch in eine Einheit, die an der Front kämpfte. Über seine zwei Jahre im KZ Auschwitz-Birkenau sagte er später der BBC, er sei „ein Rädchen im Getriebe“gewesen.
Was tat Gröning in Auschwitz? Seine Aufgabe, als sogenannter „Buchhalter von Auschwitz“, war es, das von den eingetroffenen Häftlingen zurückgelassene Gepäck wegzuschaffen. „Damit sollten die Spuren der Massentötung für nachfolgende Häftlinge verwischt werden“, heißt es in der Anklage der Staatsanwaltschaft Hannover, über die seit Dienstag in Lü- neburg verhandelt wird. Sie wirft Gröning Beihilfe zum Mord in 300.000 Fällen vor – wobei sich die Anklage aus rechtlichen Gründen nur auf die sogenannte „Ungarn- Aktion“beschränkt, bei der im Sommer 1944 mindestens 300.000 von dort stammende Menschen ermordet wurden. Gröning habe die aus dem Gepäck genommenen Banknoten gezählt und an die SS weitergeleitet. Ihm sei dabei bewusst gewesen, dass die als „nicht arbeitsfähig“eingestuften Häftlinge unmittelbar nach ihrer Ankunft in den Gaskammern ermordet würden. Gröning habe dadurch dem NS-Regime wirtschaftliche Vorteile verschafft und das systematische Tötungsgeschehen unterstützt.
Gleich zu Beginn des Prozesses legte Gröning ein umfassendes Geständnis ab. „Für mich steht außer Frage, dass ich mich moralisch schuldig gemacht habe. Ich bitte um Vergebung. Über die Frage der strafrechtlichen Schuld müssen Sie entscheiden.“
Gröning steht erst jetzt vor Gericht, weil nach dem deutschem Recht bis 2011 KZ-Aufsehern eine direkte Beteiligung an den Morden nachgewiesen werden musste. Daher waren 1985 Ermittlungen eingestellt worden. Erst 2011 wurde diese Rechtsauffassung geändert: Nun reicht die Tätigkeit eines Aufsehers in einem Lager für die Annahme der Beihilfe zum Mord aus, ohne Nachweis eines konkreten Tötungsdelikts. Mord verjährt in Deutschland nicht. Bei Beihilfe tritt an die Stelle von lebenslanger Haft eine Haftstrafe bis zu drei Jahren.