„Die Lage ist gut, aber instabil“
Lohnzuwächse und die gestiegene Binnennachfrage tragen zum deutschen Wirtschaftsaufschwung bei, sagt der Ökonom Gustav Horn. Österreichs Wirtschaft werde davon profitieren.
RICHARD WIENS SN: In Deutschland gilt seit Jahresbeginn ein gesetzlicher Mindestlohn von 8,50 Euro. Wie fällt eine erste Bilanz aus? Horn: Positiv. Die Schäden, die viele befürchtet haben, sind nicht eingetreten, die Beschäftigungsdynamik in Deutschland ist ungebrochen. Und die Zahl der sogenannten Minijobs mit verminderten Sozialabgaben ist gesunken. Offenbar stellen viele Arbeitgeber Beschäftigte jetzt zu regulären Bedingungen ein, das war erwünscht. SN: Arbeitgeber klagen über Bürokratie bei der Aufzeichnung der Arbeitszeit. Zu Recht? Das sind Rückzugsgefechte. Es ist essenziell, dass die Stunden aufgezeichnet werden, um nachvollziehen zu können, ob der Mindestlohn gezahlt wurde. Es ist von einem Arbeitgeber nicht zu viel verlangt, das zu dokumentieren. Das ist der Rest des großen Widerstands, den es gab, aber das wird sich legen. SN: In Österreich gibt es keinen gesetzlichen Mindestlohn, aber deutlich mehr Kollektivverträge. Was ist besser? Diesen Zustand hatten wir bis zur Wiedervereinigung in Deutschland auch. Ich würde das einem Mindestlohn immer vorziehen. Aber der Abdeckungsgrad der Tarifverträge ist seit den Arbeitsmarktreformen der 2000er-Jahre stark gesunken und liegt unter 60 Prozent. Wir waren in Deutschland bei den Löhnen ohne untere Grenze, das wurde ausgenützt. Es gab Löhne von drei Euro und weniger. Das ist für eine Gesellschaft unhaltbar, das empfinden alle als ungerecht. Daher ist es legitim, dass der Gesetzgeber eingreift. SN: Die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft leidet unter einem Mindestlohn Ihrer Ansicht nach also nicht? Nein, denn die Stellen, über die wir reden, sind ja nicht in der Exportindustrie angesiedelt, für die ist der Mindestlohn eigentlich irrelevant. Es geht vorwiegend um in Deutschland erbrachte Dienstleistungen. SN: Laut dem Frühjahrsgutachten steht die deutsche Wirtschaft vor einem Aufschwung. Sehen Sie das eigentlich auch so? Wir sind optimistisch. Wir erwarten für heuer mehr als zwei Prozent Wachstum und das könnte auch 2016 so sein. Zuversichtlich macht uns die kräftige Binnennachfrage, das ist ein Unterschied zu früher. Wir haben stärkere Lohnzuwächse als früher, das hat den Konsum beflügelt, dadurch ist der Aufschwung tragfähig. Und wir sind etwas unabhängiger von außenwirtschaftlichen Turbulenzen geworden, die es noch gibt. Die Lage in Deutschland bezeichne ich als gut, aber instabil. SN: Warum instabil? All dies kann schnell gefährdet werden. Flammt die Eurokrise wieder auf, ist die Prognose nicht zu halten. SN: Dafür ist der Aufschwung ausgewogener, er ist nicht nur vom Export getrieben? Es ist die Art von Aufschwung, die wir gefordert haben. Nur mit Exportüberschüssen geht es nicht, die Binnennachfrage muss mitziehen. Das ist auch gut für die Staats- und Sozialkassen, das zeigt der Überschuss im deutschen Haushalt. SN: Lange Zeit entwickelte sich Österreichs Wirtschaft besser als die deutsche. Warum hat sich das jetzt gedreht? In der längeren Perspektive liegt Österreich in einigen Bereichen noch immer besser. Deutschland hat aufgeholt, weil es eine gute Anti-Krisen-Politik gemacht hat, durch starke Nutzung von Kurzarbeit, Investitionsprogramme, die nachwirken. Und Deutschland hat nach der Krise nicht so stark gespart, und es gibt um einen Prozentpunkt höhere Lohnzuwächse als früher. Das ist eine der Quellen des Aufschwungs. Wir profitieren von der Eurokrise durch die sehr niedrigen Zinsen. SN: Sie sagen, Österreich sei in manchen Bereichen immer noch besser. Wo zum Beispiel? Österreich hatte stets höhere Lohnzuwächse als Deutschland, daher war die Binnenkonjunktur besser. In diesem Jahr sieht es anders aus, weil Deutschland aufgeholt hat. SN: In Österreich wächst die Wirtschaft nur sehr schwach, wird das länger so bleiben? Nein. Österreich wird heuer zwar nur um 0,6 Prozent wachsen, aber es wird schon wegen der engen Verflechtung mit Deutschland aufholen, nächstes Jahr. Der Aufschwung in Österreich kommt später als in Deutschland, aber er kommt. SN: Warum ist Deutschland bei der Arbeitslosigkeit jetzt besser als Österreich? Bei der Konjunktur ist klar, dass wir einen Arbeitsplatzaufbau haben. Dazu kommt, dass die Demografie für uns arbeitet, das Angebot an Arbeitskräften schrumpfte bisher. SN: Abseits der guten Nachrichten, gibt es auch Gefahren für die deutsche Wirtschaft? Wir haben einen deutlichen Rückstand in der öffentlichen Infrastruktur. Wenn wir da nichts tun, wird das in der Zukunft eventuell problematisch. Wir leben vom Verschleiß der Infrastruktur, das sieht man mittlerweile auch. Zudem ist die Verteilung relativ ungleich, ein Punkt, der in der Debatte noch an Gewicht gewinnen wird. Und die Ungleichgewichte im Außenhandel sind noch nicht überwunden, sie haben sich nur von Europa woandershin verlagert. Das klingt weniger gefährlich, kann auf Dauer aber Wechselkursprobleme bringen. SN: Weite Teile Europas leiden unter hoher Arbeitslosigkeit. Wie groß ist dieses Problem? Ich halte die Lage in Europa nach wie vor für sehr gefährlich. Man hat zwar die Schrauben beim Sparkurs etwas gelockert, das sieht man in der besseren wirtschaftlichen Entwicklung von Ländern wie Spanien und Portugal. Aber die politischen und sozialen Konsequenzen der hohen Arbeitslosigkeit sind auf Dauer nicht durchhaltbar. Wir sehen klare Desintegrationstendenzen im Euroraum. Wir reden immer über den Austritt Griechenlands, das ist aber nur ein besonders dramatischer Fall. Wir haben solche Entwicklungen in mehreren Ländern, etwa in Spanien oder in Großbritannien. Das wird ausgeklammert, dem müssen sich aber alle Europäer stellen. Wir brauchen eine europäische Debatte, führen sie aber national, gerade auch in Deutschland. SN: Wie erleben Sie die Debatte über Hilfen für Griechenland? Manchmal denkt man, man sei im Kindergarten. Wenn beide Seiten den Euroraum zusammenhalten wollen, sollte man rasch zusammenkommen, ohne gleich alle Probleme lösen zu können. Der Aufbau eines Steuersystems, einer Steuerverwaltung, die Bekämpfung der Korruption dauert, dafür braucht Griechenland Zeit. Aber es muss auch selbst glaubwürdige Schritte machen. SN: Was würden Sie raten? Der Europäische Stabilitätsmechanismus ESM sollte die kurzfristigen Schulden des IMF übernehmen und damit Griechenland Zeit für Reformen geben, zu denen es sich verpflichten muss. Der Weg, Griechenland über einen Sparkurs zu sanieren, ist gründlich gescheitert, das sieht man daran, dass das Land ein Viertel seiner Wirtschaftsleistung eingebüßt hat und das Sparen im Land noch ungleich verteilt wurde. SN: Aber niemand hat den Griechen vorgeschrieben, wie sie die Lasten verteilen. Stimmt, man hat schlechte Vorgaben auch noch schlecht umgesetzt. SN: Wagen Sie eine Prognose, wann Europa die Krise hinter sich lassen kann? In Griechenland brauchen die Reformen sicher ein paar Jahre. Aber die Beruhigung ließe die Investitionen wieder anspringen. Dann hätte Europa die Chance, zu Wachstumsraten von früher zurückzukehren, zwei Prozent und mehr. So könnten wir schaffen, was die Amerikaner schaffen, vielleicht noch besser.
Gustav Horn (60)