1997 Wolfgang Schüssel frühstückt in Amsterdam
„Richtige Sau“, „Trottel“und „Kümmeltürk“bringen den Außenminister in Bedrängnis.
Der kürzeste erste Absatz eines Leitartikels der SN erschien am 3. Juli 1997: „Wolfgang Schüssel lügt.“Das war starker Tobak. Denn Chefredakteur Ronald Barazon bezichtigte damit den Außenminister und Vizekanzler der Republik Österreich. Auch Wolfgang Schüssel hatte starken Tobak von sich gegeben, wenngleich in einer Umgebung, in der er annehmen durfte, dass nichts nach außen drang.
Der Schutzmechanismus hatte als Codewort „off the record“oder „unter 3“. Das erste ist ein Begriff der Nachrichtenverschlüsselung und bedeutet das Gleiche wie die Usance des deutschen Bundespresseamts: Eine Mitteilung „unter 1“darf offiziell zitiert werden; was „unter 2“gesagt wird, darf erwähnt werden, ohne den Informanten zu nennen. Was ein Journalist „unter 3“erfährt, darf er nur wissen, doch nie berichten, auch nicht ohne Quellenangabe. Diese Regel ist ei- ne Art Ehrenkodex und kann für den Gedankenaustausch von Politikern und Journalisten nützlich sein, weil Zusammenhänge erkennbar werden oder eine Revision von Ansichten möglich wird. Wer sie bricht, wird von Hintergrundinformationen abgeschnitten. Derart vertraulich sind typischerweise Gespräche mit Diplomaten; Hintergrundgespräche mit Politikern und Beamten rund um EU-Institutionen sind fast immer „unter 3“oder „off the record“, so auch das Frühstück eines Ministers mit Journalisten am Rande eines EU-Gipfels. Bei jenem am 17. Juni 1997 in Amsterdam bezeichnet Wolfgang Schüssel den damaligen deutschen Bundesbankpräsidenten Hans Tietmeyer als „richtige Sau“, den dänischen Ministerpräsidenten als „Trottel“, weil dieser bei einem Umweltschutzkompromiss „wie ein Kamel das Gras abgefressen hat, das schon darüber gewachsen war“. Der weißrussische Präsident Alexander Lukaschenko wird zum „Kümmeltürk“. Nur durch einen Kniff wird all dies publik: Journalisten, die dabei gewesen sind, dürfen es nicht schreiben. Aber einer erzählt es dem deutschen Magazin „Focus“, das die gschmackigen Zitate Ende Juni druckt, die dann der „Standard“in Österreich zitiert.
Wolfgang Schüssel bestreitet vor allem die „richtige Sau“und versichert im Ö1-Mittagsjournal, dass „so ein Vokabular gar nicht zu meinem Sprachgebrauch gehört“. Auf eine Nachfrage legt er den Hörer auf. Auch eine Klage lehnt er ab. Im Nationalrat sagt er zu den Vorwürfen: „Die ganze Geschichte ist von Österreichern erdacht, ins Ausland weitergespielt und lanciert worden.“
Derweil bestätigen Journalisten, die beim Amsterdamer Frühstück gewesen sind, die „richtige Sau“samt „Kümmeltürk“. Doch Schüssel bleibt beim Leugnen. Da schnappt auch die Opposition zu – Susanne Riess-Passer, Bundesobfrau der FPÖ, wirft ihm vor: Mit seinen „unzumutbaren Äußerungen“werde der Außenminister „immer mehr zu einer Belastung im In- und Ausland“.
SN-Redakteur Gerhard Steininger resümiert am 4. Juli über die „unseligen Amsterdamer Morgenbetrachtungen unseres Herrn Außenministers“: „Ein Politiker, der lügt, muß zum Objekt der Berichterstattung werden. (. . .) es geht nicht um ,Sau‘ oder ,Trottel‘, sondern um das, jedenfalls punktuell, katastrophal unprofessionelle Verhalten eines österreichischen Spitzenpolitikers.“
Die Frühstücksaffäre bringt Wolfgang Schüssels Karriere nur kurz ins Wanken. Im Jahr 2000 sollte er in einer Koalitionsregierung mit der FPÖ Bundeskanzler werden – mit Susanne Riess-Passer als Vizekanzlerin.
Zuvor allerdings unterzeichnet er am 2. Oktober 1997 für die Republik Österreich den Amsterdamer Vertrag, der Ende 1999 als Meilenstein der europäischen Integration in Kraft treten sollte. Er bringt die Vertiefung in Justiz- und Innenpolitik, Umwelt- und Sozialpolitik, er stärkt die gemeinsame Außenpolitik durch einen Hohen Vertreter und bereitet die EU auf die Osterweiterung vor.