Ein europäischer Wahlkampf
Punktepolitik. Im Reglement des Song Contests sind politische Botschaften eigentlich nicht erlaubt. Ohne sie kommt trotzdem kein Finale aus.
Ganz Europa schaute zu, als die Ukraine beim Song Contest 2005 eine Hymne auf die „orange Revolution“anstimmte. Italien wiederum besang 1990 den europäischen Binnenmarkt, Nicole 1982 den Wunsch nach ein bisschen Frieden. Die Politik spielt ins große Wettsingen immer herein. Lässt sich Europas Geschichte vom Kalten Krieg bis zur EUErweiterung gar an der Musik ablesen? Der Forscher Dean Vuletic wird auch heuer beim Finale in Wien aufmerksam zuhören. SN: 27 Länder treten in Wien zum Finale des Song Contests an. Worauf hören Sie bei den Liedern am meisten? Vuletic: Mich interessiert am Song Contest immer die Frage nach der politischen Bedeutung eines Liedes: Gibt es eine spezielle Botschaft? Ungarn zum Beispiel tritt heuer mit einem Antikriegssong an. Der Beitrag Armeniens thematisiert den Genozid vor 100 Jahren. SN: Seit wann gibt es die Vermischung von Entertainment und Politik auf der Song-Contest-Bühne? Beiträge mit einer politischen Botschaft gab es immer, vor allem nach 1968. Aber nicht alle Länder nutzten den Song Contest als Bühne dafür. Großbritannien hat etwa nicht viele politische Songs geschickt. Sie haben den Song Contest immer eher als Veranstaltung gesehen, um Pop zu verkaufen. Italien hat hingegen den Song Contest 1990 mit einem eindeutig politisch besetzten Thema gewonnen: Toto Cutugnos Titel „Insieme“war eine Hymne auf die europäische Integration und Europas Binnenmarkt. SN: Sind politische Botschaften im Reglement des Song Contests nicht eigentlich verboten? Die Regelung gibt es. Und es ist ein interessantes Phänomen: Manche Botschaf- ten sind der Europäischen Rundfunkvereinigung (EBU) zu politisch, andere nicht. Als der Contest 2009 in Moskau stattfand, wollte Georgien mit dem Song „We Don’t Wanna Put In“antreten. Die EBU forderte sie auf, den provokanten Songtext zu ändern, Georgien verzichtete auf die Teilnahme.
Heuer hat Armenien seinen Titel geändert: Erst sollte er „Don’t Deny“(etwa: Leugne nicht) heißen. Im Konflikt um die Anerkennung des Genozids erschien er der EBU zu politisch. Nun heißt er „Face the Shadow“. Und dann gibt es wieder umgekehrte Fälle: 2005 wurde der Song Contest in der Ukraine ausgetragen. Der Gastgeber trat mit dem Beitrag „Razom nas bahato“an, das bedeutet „Gemeinsam sind wir mehr“und war ein Lied der „orangen Revolution“– also gewissermaßen superpolitisch! SN: Auch die Punktepolitik der Teilnehmerländer sorgt immer wieder für Diskussionen . . . Da spielen allerdings viele Vorurteile hinein. In Westeuropa haben Kommentatoren oft das Gefühl, dass sich die osteuropäischen Staaten miteinander verschworen haben und sich gegenseitig Punkte zuschieben. Statistisch ließe sich das aber nicht belegen. Sicher gibt es immer wieder Vorzugsstimmen zum Beispiel innerhalb der ehemaligen Sowjetstaaten. Das hat aber eher damit zu tun, dass sie eine gemeinsame Popkultur haben. Einen Wahlblock gibt es deshalb nicht, auch nicht innerhalb der mitteleuropäischen Länder. Die Angst vor dem Osten ist eher ein historisches Vorurteil aus dem Kalten Krieg. Wir leben in einem Europa ohne Eisernen Vorhang, aber in den Köpfen gibt es ihn oft noch. SN: Österreich will sich heuer hingegen als Gastgeber weltoffen präsentieren. Hat die Toleranzbotschaft, mit der Conchita Wurst 2014 gesiegt hat, auch echte politische Wirkung gezeigt? Conchita Wurst wurde durch ihren Sieg vor allem zu einer Symbolfigur. Österreich war stolz auf sie, der Bundeskanzler lud sie auf den Ballhausplatz ein. Aber hat sich am Leben von Homosexuellen in Österreich seither etwas verändert? Einige Gleichstellungsgesetze für Homosexuelle, zum Beispiel für die gleichgeschlechtliche Ehe, werden noch nicht verabschiedet.
Freilich darf man nicht vergessen: Conchita Wurst ist nicht ausschließlich mit einer politischen Botschaft angetreten, sondern auch mit einer kommerziellen Strategie. Wir reden beim Song Contest immer von Popstars, die natürlich auch ihre Karriere verfolgen und Geld verdienen wollen. SN: Also doch: Der Song Contest als Unterhaltungsevent? . . . der aber trotzdem eine Art Europawahl ist. Auf der Eurovisions-Bühne bemühen sich die Teilnehmer, etwas für das Image eines Landes zu tun. Spanien hat in der Zeit des autoritären Franco-Regimes sehr ernsthaft versucht, den Bewerb zu gewinnen. Auch Österreich hat mit seinen Beiträgen oft auf die politische Realität reagiert. 1986, im Jahr der Waldheim-Affäre, sandte Österreich die österreichisch-israelische Sängerin Timna Brauer zum Song Contest. Und im Jahr der EU-Sanktionen gegen die schwarzblaue Regierung traten die multikulturellen Rounder Girls an. SN: Anhand der Beiträge, die von den Ländern in 60 Jahren präsentiert wurden, könnte man also auch ein Stück Europakunde betreiben? Ich denke sogar, eine der großartigen Eigenschaften des Song Contests ist es, dass er Menschen dazu bringt, sich miteinander über Europa zu unterhalten. Oft wissen wir ja nur wenig über die eigenen Nachbarn. In einer meiner Song-Contest-Lehrveranstaltungen an der Universität Wien habe ich einmal alle Teilnehmer gefragt, wer von ihnen schon einmal in Bratislava gewesen sei. Niemand hat aufgezeigt! Der Song Contest kann also eine Bühne für gegenseitiges Interesse sein. Und er bietet eine unterhaltsame Möglichkeit, sich über ernsthafte Europathemen Gedanken zu machen.