Ein Europa, das längst nicht mehr „hell“ist
Peter Handkes „Die Stunde da wir nichts voneinander wußten“bei den Wiener Festwochen.
Ein Stück ohne Worte und voller Poesie: Im Sommer 1991 verfasste Peter Handke den Theatertext „Die Stunde da wir nichts voneinander wußten“als Spielanweisung ohne Dialoge. Irgendwo auf einem belebten Platz in Europa ziehen Paare/Passanten/Gruppen vorüber. Jede Person hat ihre eigene, individuelle Geschichte, die sich in der Beobachtung des Zusehers als Teil einer umfassenden Geschichte, einer Geschichte der Menschheit, der aktuellen politischen Konflikte, der Macht- und Glaubenskämpfe lesen lässt. So erzählt das estnische Regiepaar Ene-Liis Semper und Tiit Ojasoo seine Idee von der Veränderung der Welt in der Koproduktion mit dem Thalia Theater Hamburg.
Peter Handke hatte einst ein Europa vor Augen, das nach dem Fall der Mauer ein neues Selbstverständnis suchte. Heute, knapp ein Viertelhundert nach der Uraufführung durch Claus Peymann, der eine mediterrane Utopie auf die Bühne brachte, zeigen sich diese Begeg- nungen in einer ungleich stärkeren Wucht und Drastik.
Die Bühne ist alles andere als „ein freier Platz im hellen Licht“, wie Handke schreibt. Eine Mauer beschränkt den Platz, auf dem die Akteure – ohne nach links oder rechts zu blicken – ihrer Wege gehen. Sie tragen graue Kleider und fügen sich in das düstere Ambiente, nur wenige fallen aus der Rolle. Eine Frau etwa verbirgt unter ihrem Mantel buntes Diebesgut, ein Mann scheint betrunken, ein anderer hat seine Aggressionen nicht im Griff. Kalt, ohne aufeinander zu achten, geradezu teilnahmslos, ziehen sie aneinander vorüber.
Doch schon bald rückt die Mauer in den Hintergrund, macht ein Feld für neue Möglichkeiten frei: Menschen unterschiedlicher Ethnien und Religionen treffen aufeinander, Flüchtlinge, Europäer, Verrückte und Normale, sie lieben und trennen sich, lachen, weinen, haben Sex, tauschen Kleider und somit ihre sozialen Rollen und konstruieren Identität: politische, nationale, religiöse.
In der Logik dieses Bilderreigens wird die Wand auch zur Klagemauer, dann wieder öffnet sie sich für Gott, Jesus und Maria. Als kompaktes Bild des Schmerzes bewegen sie sich durch den Mauerspalt, buchstäblich (von einer Neonröhre) erleuchtet. Die nun nackten Mitakteure werden zur Gefolgschaft, doch als sich die Mauer schließt, hat der Frieden ein Ende. Frierend flüchten sie. Das Paradies währte nur allzu kurz. Die Musik von Lars Wittershagen unterstützt die atmosphärische Dichte der Bilder und schafft akustische Räume.
Der Abend zieht sich trotz der präzisen Choreografie aus Slow Motion, Zeitraffer, Tanz und Pantomime zwischendurch in die Länge. Am Ende jedoch gewinnt der großartige Männerchor noch einmal volle Aufmerksamkeit. Dezent platzieren sich die Sänger ins Parkett und durchmischen das Publikum. Es gab begeisterten Applaus.