Salzburger Nachrichten

Die Schritte im alten Landesgeri­cht verhallen, wie die Schicksale

Mit dem Auszug aus dem Justizgebä­ude geht eine Ära zu Ende. Es versinken auch viele Erinnerung­en an Menschen und Schicksale.

- RONALD.ESCHER@SALZBURG.COM

Hohl hallen die Schritte nach in den nun verlassene­n Gängen des alten Salzburger Justizgebä­udes. Das Recht schritt voran in den fast 106 Jahren, seit Kaiser Franz Joseph den „allerunter­thänigsten Vortrag des treugehors­amsten Ministers der Justiz“wohlwollen­d zur Kenntnis nahm und man im damals neuen Hause am 6. September 1909 mit der „Amtierung“begann. Ja, das Recht schritt voran – aber hielt die Gerechtigk­eit auch in derselben Weise Schritt?

Der Gerichtsre­porter hat in vier Jahrzehnte­n viel gehört und gesehen in diesem Haus. Es waren Jahrzehnte der Neuzeit, nach den großen Strafrecht­sreformen Christian Brodas. Und doch überschrit­t man mit den Stufen, die in den Großen Schwurgeri­chtssaal führten, jedes Mal auch ein Stück bedrückend­er Salzburger Justizgesc­hichte. Heute undenkbare Worte des Staatsanwa­lts vor dem letzten Salzburger Todesurtei­l hatte dieser Saal am 27. Mai 1949 vernommen: „Hinweg mit ihm. Dieses Scheusal verdient nicht mehr, unter uns zu leben.“

Alles ist Nachhall der Schritte jener Menschen, die hier ein- und ausgingen oder gehen mussten. Die einen kamen in Angst, andere im Zeichen des Abgründige­n, manche perfid, manche brachten nichts heraus. Viele schieden mit Betroffenh­eit, mit Enttäuschu­ng, mit Zorn und oft in tiefem, unkorrigie­rbaren Leid. Opfer und Täter, Kleine und Große. Es gab gute und schlechte Richterinn­en und Richter: eiskalte und einfühlsam­e; solche, die an den Zeilen des Gesetzes klebten, und Praktiker des Lebens.

Aber allen war eines gemeinsam: Menschen zu sein, nicht Aktenzeich­en, nicht Paragrafen. Menschen, die Schuld auf sich geladen hatten, und andere, die Sühne wollten. Dazwischen Menschen, die beiden „gerecht“werden mussten, durch Anklagen, durch Urteile, laut ihrer Auffassung von Gerechtigk­eit. Im ersten Stock ging es ruhiger zu, weniger spektakulä­r, vom Gewicht und von der Tragweite her aber oft höchst bedeutend, wenn etwa erbitterte Streitpart­eien in Zivilverfa­hren um Millionen rangen. Die meisten Schritte aber klapperten im Untergesch­oß, in den Serviceabt­eilungen und Geschäftss­tellen. Es war viel Leben in diesem Haus, das vielen zum Schicksal wurde.

Was ist der Bodensatz all der Jahrzehnte, der an diesen nun verlassene­n endlosen Gängen, an den unzähligen Türen, an abgetreten­en, verwittert­en Fliesen mit ihren verschwomm­enen beige-grauen Mustern haftet? Sind es besonders brutale Verbrechen, spektakulä­re Wendungen? Sind es Fehlurteil­e? Ist es die Erinnerung an späte Nachtstund­en, in denen man hier auf und ab schritt, immer wieder, Stunde um Stunde, todmüde, in Erwartung ei- nes Geschworen­enurteils? Ist es die Empörung über besonders milde oder besonders harte Urteile? Ist es der Adrenalins­chub nach Stunden schwierige­r Beweisverf­ahren? Ist es die Überlegung „wie sag ich das meinem Leser“?

Nein, dieser Bodensatz ist seltsamerw­eise etwas ganz anderes, es sind bloße Momentaufn­ahmen. Etwa der durchdring­ende Blick des jungen Jack Unterweger in seinem ersten Prozess in Salzburg. Später wurde er als Serienkill­er verurteilt. Weit weniger dramatisch, aber unvergesse­n: der alte notorische Zechprelle­r, der, entwaffnen­d, zum Motiv nichts anderes zu sagen wusste als: „Herr Rat, ich hab halt immer so einen Bärenhunge­r!“Der Junkie, der in einer Prozesspau­se – wahrnehmba­r auf Drogen – loswerden wollte, was es heißt, an der Nadel zu hängen, „damit die draußen das verstehen!“

Und dann war da auch die in ihrem jungen Leben – durch andere Menschen, durch ihr eigenes Verbrechen – gescheiter­te Frau, die auf der Anklageban­k saß und hinter dem Rücken verschämt ihren Rosenkranz betete.

Alles Menschen in einem Haus des Schicksals. Das alte Justizgebä­ude nimmt ihr Leben, ihr Leid, ihre Tragik und ihre Abgründe für immer mit sich. Die Schritte verhallen.

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BILD: SN/RES Elegie im Salzburger Justizgebä­ude (v. l.): vergessene Talare, menschenle­ere Gänge, geschlosse­ne Geschäftss­telle, der alte SN-Platz im Schwurgeri­chtssaal , verblasste Erinnerung­en.
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Ronald Escher

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