Zwischen Sanskrit und Vaterunser
Aus Verachtung wurde Verehrung. Als sie am Fuße des Himalaya mit dem Aufbau einer Klinik begann, war Barbara Nath-Wiser von Einheimischen geächtet. Heute wird die Wiener Ärztin wie ein weiblicher Guru verehrt.
Paviane turnen über die Böschung, schwarze Kühe liegen mitten auf dem Weg, orangefarben gekleidete Sadhus wandern barfuß durch den Tag, dauerhupende Autos holpern an unserem vorbei. Wir fahren durch Himalach Pradesh, Nordindien, Richtung Kangratal. Die Straße besteht nur aus Schlaglöchern. In der Ferne zeigt sich der White Mountain, ein Fünftausender des Himalaya, schneebedeckt und mit Nebelstola. Zu seinen Füßen liegt unser Ziel: das Nishta Center im Dorf Sidhbari bei Dharamsala, wo das Goldene Ehrenzeichen für Verdienste um die Republik Österreich an die Wiener Ärztin Barbara Nath-Wiser verliehen werden soll.
Im bunten Sari, leicht gebückt von der Last der Jahre und mit ihrer dunkel gegerbten Haut kaum von Inderinnen zu unterscheiden, streut sie Blüten zum Empfang und setzt uns den roten Bindhi auf die Stirn: „Namasté!“–„Ich grüße den göttlichen Geist in dir!“
Vor 20 Jahren hatte sie mit dem Aufbau dieser Krankenstation im medizinischen Nowhereland begonnen. Heute präsentiert sich das Nishta Hospital Health Center als kleine, mit Schiefer gedeckte Klinik aus Stein und Lehm zwischen zwei gluckernden Bächlein – mit Warteraum, Toiletten, Apotheke, Ordination, Patientenzimmer samt vier Betten für Notfälle. Im Obergeschoß: noch zwei Behandlungsräume, zwei Räume für schwer kranke Patienten und einer, der flexibel genutzt werden kann.
Inzwischen wurde ein zweites Haus als Kommunikationszentrum für Singlefrauen und eine Nähegruppe sowie als Bildungsstätte mit Bibliothek und Computertrainingsraum für Einheimische eingerichtet. Vor allem aber hat Barbara Nath-Wiser eine Ärztin und ein eingespieltes Team vom Projektmanager bis zum Koch an ihrer Seite, außerdem Hilfspersonal und zwei Zivildie- nerstellen. Dass der blaue Buddha hier eine wichtige Rolle spielt, ist unübersehbar. „Er ist die tibetische Gottheit der Medizin“, werden wir aufgeklärt, und so begegnet man dieser Farbe fast auf Schritt und Tritt. In der weiß gekalkten Warteraum-Veranda sind zum Beispiel Fensterrahmen, Bänke, Sessel und Tisch blau gestrichen – das mutet fast griechisch an.
So ungewöhnlich wie dieser Ort der Verleihung am Ende der Welt ist auch der Festakt: 150 Gäste zum Teil im Yogasitz auf bunten Matten, der Duft der Räucherstäbchen vermischt mit Chanel Nr. 5, Meditationsgesänge tibetischer Nonnen kontrastiert von der österreichischen Bundeshymne, Frauen im Sari und im Dirndl, ein unkonventionellfeinfühliger, zu Tablarhythmen tanzender Botschafter aus Neu-Delhi, Bernhard Wrabitz, der von „der Energie, der Authentizität und dem Humor der Ärztin“begeistert ist und eine „Dr. Barbara“mit dem glänzenden, rot-weiß-roten-Orden am Seidensari: „Wo kann ich den ausführen? Ich komme zum Philharmonikerball“, meint sie lachend und doch gerührt. Hätte sie sich je ausgemalt, dass sie eine Ambulanz am Fuße des Himalaya leiten und pro Tag 25 bis 100 Patienten betreuen wird?
Als junge Abenteurerin fuhr sie 1977 nach Dharamsala und schrieb sich in eine Musikschule ein, wo sie den 30 Jahre älteren Guru, Musiker und Mönch Krishan Nath Baba, kennen und lieben lernte. Mit ihrem Baba-ji bekam sie zwei Kinder, Anapurna und Shankar, und hütete den Tempel. „Es ist unüblich, dass ein Yogi heiratet, das hatte sich wie ein Lauffeuer verbreitet. Wenn ich in Dharamsala über die Straße ging, wurden die Fenster aufgerissen und die Leute riefen sich zu: Schaut’s, da kommt die Hippie“, erinnert sie sich. „Wir lebten dann einige Jahre im Exil in Benares und Wien.“
„Dr. Barbaras“Praxis ist bescheiden und funktional: ein Schreibtisch am Fenster, ein gynäkologischer Stuhl hinter dem Paravent, eine alte Kommode für Medikamente, bunte Plakate mit Abbildungen des menschlichen Skeletts oder der Organe – „damit wir unseren Patienten den Körper erklären können“, und ein Bild des österreichischen Homöopathiepapstes Matthias Dorcsi, bei dem sie während ihres Turnus an der Uniklinik Wien gelernt hatte. „Als Baba-ji 1986 starb, sollte ich wie andere indische Witwen nicht mehr arbeiten dürfen und vom Betteln leben. Man wollte mir dieses Land hier nehmen. Meine Rettung war mein damals fünfjähriger Sohn, den die Mönche unserer Sekte zum Nachfolger und Tempelhüter initiierten: So konnte ich unser Haus – damals nur ein Raum – behalten.“
Zunächst arbeitet die Allgemeinmedizinerin im Delek-Spital im Exilwohnort des Dalai Lama, Dharamsala, später fünf Jahre lang als Leiterin eines Sozialkrankenhauses, aber innerlich reift in ihr das Projekt Nishta: „Mein Traum war ein Gratis-Gesundheitszentrum für arme Leute, speziell für Frauen. Die ersten Patienten habe ich auf meiner Veranda behandelt, denn für einen Bau fehlte das Geld.“Sie begann, unterernährte Kinder mit Mahlzeiten und die arme Bevölkerung mit Obst zu versorgen.
Ihr Porträt in einer Filmdokumentation über Auslandsösterreicher aktiviert die „Aktion Regen“, eine private Initiative für Entwicklungshilfeprojekte, die den Klinikbau und das Projekt finanziell betreut, bis vor zwei Jahren „Nishta Austria“gegründet wurde. Noch immer ist nicht genug geschehen: Gerade ist der Kinderspielplatz, der abends den Schafen zum Grasen dient, fertig mit bunten Geräten bestückt, fünf Zuleitungen für gefiltertes Wasser gibt es nun im Dorf, sogar die Mülltrennung beginnt zu funktionieren. „Wir haben unseren Hausund Hofmusiker mit lustigen Anti-Müll-Liedern zu den Leuten geschickt, das hat gegriffen. Wir wollen das sauberste Dorf Indiens werden.“Nur – was mit den gepressten Plastikziegeln geschehen soll, macht ihr Kopfzerbrechen: „Vielleicht bauen wir eine Art Luftburg für den Spielplatz?“
Zwar bewegt sich „Dr. Barbara“gern in den luftigen Höhen des Himalaya und hat sich sogar eine Einsiedelei hoch oben auf dem Hang für 100 Stunden Einsamkeit gebaut, trotzdem steht sie fest mit beiden Füßen auf dem Boden, hat ihr Luftschloss verwirklicht und managt den Klinikbetrieb samt acht Familien. Den indischen Alltag lebt sie mit konsequenter Widersprüchlichkeit, isst mit den Fingern und opfert dem Hindu-Wettergott, betet das Vaterunser als Christin, zündet zu Ostern 750 tibetische Butterlämpchen an, singt im Chor: „Großer Gott, wir loben dich“und reist jedes Jahr zu den Festwochen nach Wien und mit ihren Nishta-Vorträgen durch Europa. Der Weg ist das Ziel – die Finanzierung der Klinik, die ausschließlich von Spenden lebt.
Der Weg ist lang und hat seine Schattenseiten. Zum einen wird die Ärztin von den Einheimischen, lächelnden Menschen mit unergründlich dunklen Augen, die immer noch die Unterwerfungsgesten aus der englischen Kolonialherrschaft in den Genen haben, wie ein weiblicher Guru verehrt. Andererseits ist das Misstrauen geblieben: „Pervers“, meint „Dr. Barbara“, „Nishta heißt Vertrauen. Ich behandle diese Ärmsten der Armen gratis, aber viele zweifeln gerade deshalb an der Qualität, kratzen von überall Rupien zusammen und lassen sich teuer in einer Privatklinik untersuchen – das Ergebnis bleibt gleich. Ich habe jetzt ein Bezahlsystem eingeführt. Wer etwas verdient, muss auch etwas abgeben.“
Trotz vieler Enttäuschungen, Demütigungen und der täglichen Mühen der Ebenen fühlt sich Barbara Nath-Wiser im Land der tausend Widersprüchlichkeiten zu Hause, spielt mit ihren beiden Enkelkindern und grüßt jeden Morgen ihren Baba-ji, dessen sterbliche Überreste in einer kleinen Pyramide neben dem Tempel eingemauert sind, mit frischen Blumen. Und auf die Frage, wo sie selbst einmal begraben sein wolle, antwortet sie prompt: „Neben Baba-ji und so wie er – im Lotossitz.“