Schön leben in Schanghai
Erst kommt das Fressen, dann die Moral, wenn man Bert Brecht glauben darf. Und so genießt man den wirtschaftlichen Aufstieg, kleine Freiheiten und ab Sommer die höchste Aussichtsplattform weltweit. INFORMATIONEN
Mit 18 Metern pro Sekunde saust einer der 106 Fahrstühle nach oben in die luftige Höhe von 561 Metern. Das höchste Bauwerk der Welt, den 828 Meter hohen Burj Khalifa in Dubai, wollten die Chinesen aus ästhetischen Gründen nicht überbieten. Denn der neue Shanghai Tower mit 632 Metern, der im Sommer der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wird, bildet mit dem Jin Mao Tower mit 420 Metern und dem Shanghai World Financial Center mit 492 Metern, das an einen Flaschenöffner erinnert und auch so genannt wird, ein Ensemble. Schließlich soll die Harmonie zwischen den drei Wolkenkratzern gewahrt bleiben. Dass man aber die höchste Aussichtsplattform der Welt haben wollte, war klar: Zumindest ein Rekord musste sein für das schon 1993 geplante Drei-Türme-Projekt.
Der Plattformblick ist selbst im Smog der 23-Millionen-Einwohner-Metropole erhebend. Der Flaschenöffner kommt am nächsten heran. Der eigenwillig konstruierte Fernsehturm mit seinen elf Kugeln auf unterschiedlichen Höhen, lange Zeit das höchste Bauwerk Chinas und das Wahrzeichen der Stadt, wirkt dagegen von oben schon recht niedlich und die Jugendstilbauten am Prachtboulevard Bund auf der anderen Seite des Huangpu-Flusses sogar wie Spielzeughäuschen.
China im allgemeinen und Schanghai als Motor der chinesischen Wirtschaft im Besonderen werden gern in Fakten und Zahlen vermessen. Aber es lohnt auch ein geerdeter Blick auf die Menschen. Das Reich der Mitte hat sich ja trotz manchmal enervierender Visaprozeduren längst zu einem Reich des Reisens entwickelt. In seiner 5000-jährigen Geschichte war das Land noch nie so offen wie heute. Und der erste Blick auf eine Weltstadt wie Schanghai zeigt zunächst keine Restriktionen. Schanghai lebt, pulsiert, gibt sich weltoffen und modern. Das ist es, was die Mehrheit der Leute bewegt in dieser Riesenstadt. Trotzdem bekommt jeder europäische Staatschef, der mit Wirtschaftsdelegationen im Schlepptau nach China reist und lukrative Aufträge an Land ziehen soll, auch immer den Auftrag mit auf den Weg, die Menschenrechte anzusprechen. Während einer wie Modedesigner Lu Kun sich gegen provozierende Konzeptkünstler wie Ai Weiwei verwehrt – „Er bringt die Szene nicht weiter“– spricht er sich dennoch für die Freiheit aus. „Aber zuerst wollen wir einfach nur besser leben. Wir sind ein riesiges Land, in dem aber die Regierung Freiheit und Freiheiten nur Schritt für Schritt geben kann.“Der 34-Jährige steht mit seiner Aussage stellvertretend für viele: Die Kommunistische Partei hält die Volksrepublik zusammen. In Indien ist es immer noch das Kastensystem, auch wenn es offiziell abgeschafft wurde. Milliardenvölker funktionieren nun einmal anders als Kleinstaaten wie Österreich oder Deutschland.
CNN ist komplett geblockt, europäische Nachrichtenkanäle sind es teilweise. Es gibt auch kein Google und Facebook in Schanghai. Na und? Die Chinesen haben ihre eigenen Pendants: Baidu und Weibo. Lu Kuns Assistentin steht gerade über Weibo in Kontakt mit ihren Freunden – im Zwei-Daumen-Hacksystem wie die Mädchen im Westen auch. Das soziale Netzwerk funktioniert. Und die Kommunikation zwischen den Zeilen auch: Ein Motiv der Fotokünstlerin Chen Man beschreibt das heutige Schanghai sehr feinsinnig. Vor der in grau in grau getauchten Silhouette von Schanghai steht ein hübsches Model auf einer grauen Mauer. Die einzige Farbe auf diesem Bild ist Rot. Die chinesische Flagge ist rot, das Kleid der Frau ist rot. Sie lehnt sich an den Flaggenmast an und salutiert . . . Wären heute echte demokratische Wahlen, würde wohl halb Schanghai die alten Herren der KP wählen. Denn ihnen haben die Menschen ihren langsam erreichten Wohlstand zu verdanken. Schon Bertolt Brecht sagte: „Erst kommt das Fressen, dann die Moral!“Die immer noch gravierenden Menschenrechtsverletzungen bleiben bei diesem Credo zwangsläufig außen vor – erstmal zumindest.
Der Bund, historischer Prachtboulevard und Uferpromenade, war schon immer etwas dekadent, mit Opium und Bordellen, Pferderennen und Clubs, hohen Margen durch weltweiten Handel und dem Bau der Art-déco-Häuser, die schon in den 1920erund 1930er-Jahren zeigen sollten: Wir sind genauso reich wie Paris. Art déco gab es schließlich nur in Städten mit einer High Society. Die, aber nicht nur die, lässt sich heute in Luxushotels wie dem Peninsula, der ersten Adresse der Stadt, beim High Tea mit Kaviar verwöhnen. Wobei erwähnt werden muss, dass „China inzwischen Russland als Kaviarproduzent abgelöst hat und europäische Spitzenköche wie Ducasse oder Robuchon zu dessen Käufern gehören“, wie Jean-Claude Terdjemane, Maître im Peninsula, weiß.
Rund um den hoteleigenen, elegant dunkelgrünen Rolls-Royce in der Auffahrt posieren derweil ein paar Landeier im roten Vorhochzeitskleid, um ein wenig Glanz abzubekommen von der großen, glamourösen Schanghai-Welt. Nebenan bei Christie’s werden Diamanten, Uhren, Wein und Kunstwerke versteigert, da geht schon einmal ein Picasso für 30 Millionen US-Dollar über den Tisch. „Und hochpreisiger Wein ist weniger eine Investition als wichtig fürs Prestige“, sagt Ronald Kiwitt, Business-Manager des Auktionshauses. „Da heißt es dann schon: Heute trinken wir einmal ein Fläschchen um Hunderttausend . . .“