Henry James (1843–1916) war ein intimer Kenner unserer Herzen und Seelen.
nern mich an mein jüngeres Ich.“Die bittere Pointe der Erzählung ist, dass die inzwischen verstorbene alte Gräfin nur auf ein Zeichen von ihrem Verehrer gewartet hätte. Immerhin macht es der junge Mann in der Geschichte besser.
Henry James war nicht der einzige berühmte Spross seiner Familie. Sein Bruder William gilt als Begründer der amerikanischen Psychologie. Er prägte den für die Literatur bei James Joyce und anderen später noch wichtigen Begriff „Bewusstseinsstrom“. Und seine Beschreibung des „Selbst“ging in die Geschichte der Entwicklungspsychologie ein. William James glaubte nicht mehr an ein einziges „Ich“, für ihn teilte es sich in ein erlebendes Subjekt „I“und ein reflektierendes Objekt „Me“auf. Erst sie zusammen ergeben als Ganzes das „Self“.
Sein jüngerer Autorenbruder interessierte sich für seine Arbeiten und ließ Erkenntnisse daraus in seine literarischen Werke einfließen. Die psychologischen Romane und Erzählungen von Henry James stehen dadurch schon an der Schwelle zur Moderne. Er glaubte nicht mehr daran, dass sich alles erfassen und mit letzter Gewissheit feststellen lässt: „Man behaupte nie, bis ins Letzte über ein menschliches Herz Bescheid zu wissen.“Mit diesem Satz hebt die großartige Erzählung „Louisa Pallant“an.
Diese beiden und andere Meistererzählungen finden sich in „Das Tagebuch eines Mannes von fünfzig Jahren“, mit dem der Züricher Manesse Verlag sich nach der Wiederentdeckung des Romans „Washington Square“erneut um Henry James verdient macht. Die Übersetzung Friedhelm Rathjens ist glänzend, und das Buch eignet sich als Einstieg ins Werk eines bedeutenden, zu selten gelesenen Autors.