Eine Welt voll Wissen und Magie
Wer vorliest, gewinnt. Grammatik, Wortschatz, Wohlfühlen: Was Kinder beim Vorlesen lernen, passiert nebenbei – und wirkt sich nicht nur auf die Kleinen positiv aus. WAS, WANN, WIE – SO WIRD VORLESEN ZUM ERLEBNIS
Christina Repolust blättert, liest, zeigt, fragt, hört zu. In der Hand hat sie ein Buch. Text muss nicht immer drinnen sein, auch Bilderbücher findet sie ganz fantastisch. Die
Zuständige für Bibliotheken und Leseförderung in der Erzdiözese Salzburg hat über die Jahre nicht nur ihren eigenen beiden Kindern vorgelesen, sondern Mädchen und Buben in Pfarren, in öffentlichen Bibliotheken, Kindergärten, Schulen, auf Festen – und sogar Senioren waren unter ihren Zuhörern. Die gebürtige Osttirolerin ist zur Vorlese-Expertin geworden.
„Vorlesen ist Liebe. Täglich zehn Minuten Zeit, für sich, für eine Geschichte, für die Kinder, die kleinen und genauso für die großen, die gern zuhören, weil sie dann so ruhig werden und wieder sehr viel spüren, hören, sehen und riechen“, ist Repolust überzeugt.
Ihr Ansatz: Eltern fühlen sich oft gefordert und überfordern sich noch öfter selbst. Vorlesen entspannt praktischerweise nicht nur die Kleinen, sondern nach und nach auch die Großen. „Wer sich vornimmt, seinen Kindern zum Beispiel beim Bettgehen auch nur zehn Minuten Geschichten anzubieten, der versöhnt sich am Ende eines stressigen Tages mit diesen kleinen Wesen, die nach allem Herumtoben wieder gewaschen und neugierig im Bett sitzen“, sagt die 57-Jährige. Das sei wohltuend weit weg vom Alltag, vom Schuheputzen, von Kinderstreitereien, dem Zusammenräumen oder von Bausparverträgen. Lesen sei dann etwas Gemeinsames, Intimes.
Welchen Effekt Vorlesen für ganz kleine Kinder hat? „Sie haben so viel Welt um sich und so viele Gegenstände zu entdecken“, erzählt Repolust. Wenn man dann mit Geschichten kommt, lernen sie nicht nur, allerlei Dinge in ihnen zu erkennen – „sie merken sich auch hochleistungssportmäßig viele Informationen davon“.
Dann könne man abends das Lieblingsbuch nicht einfach um drei Seiten abkürzen, weil man müde sei. Denn das würde ohne jeden Zweifel sofort bemerkt und lautstark beanstandet werden. In diesem Fall ist ebenso Einsicht angebracht wie in Situationen, in denen Kinder gar nicht zur Ruhe und zum Zuhören kommen wollen. „Eher
Christina Repolust, Lese-Expertin kürzer als länger vorlesen“, lautet dann der Rat. Oder gleich das Buch beiseite legen, das Kind erzählen und spielen lassen – ganz entspannt, denn der Plan von Erwachsenen darf ruhig auch einmal umgestoßen werden.
Geduld ist auch gefragt, wenn Fünfjährige immer und immer wieder dasselbe Buch fordern. „Wenn sie die Geschichte vom roten Traktor sechs Wochen lang – also 42 Mal – hören wollen, dann folgen Sie dem Wunsch einfach“, rät sie. Kinder entdecken auch beim zweiundvierzigsten Mal neue Details an den Zeichnungen auf den Seiten und prägen sich die Erzählungen dazu gut ein. Überhaupt sei Wiederholung ein wichtiges Element – „sonst müsste das Fernsehen ja alle Wiederholungen vom ,Bullen von Tölz‘, von ,Columbo‘ oder ,Sex and the City‘ einstellen“, argumentiert Repolust. Wiederholung gebe Sicherheit im Leben sowie Raum, Neues zu entdecken. Ein toller Effekt bei sechs Wochen rotem Traktor sei, dass man beim Reden darüber viel korrekte Sprache benutzt und damit schon früh den Wortschatz, die Varianz und die Sicherheit im Satzbau erweitert.
Von einem rät Christina Repolust beim Vorlesen allerdings vehement ab: „Sich verstellen ist schrecklich“, sagt sie und spielt damit auf verstellte Stimmen an, sobald ein großer Löwe oder eine hübsche Prinzessin im Buch auftauchen. Wer kein geübter Schauspieler ist, soll mit der Stimme lesen, mit der er sonst auch den ganzen Tag spricht. Löwenhaftes Knurren und prinzessinnenmäßiges Piepsen irritieren nur.
Auch die Wahl des Orts und des Inhalts sind zentrale Wohlfühlfaktoren. In welchem Raum lesen Sie vor? Welche ruhige Ecke, welcher ruhige Teil eignet sich dafür? Lesen Sie im Sommer in der Wiese, im Herbst unter einem Baum und im Winter im Schnee? Und auch die Begeisterung darf nicht zu kurz kommen: Eltern, egal, welches Bildungsniveau sie haben, sollen jenen Lesestoff auswählen, der auch ihnen Freude macht – selbst, wenn es die Witzeseite in der Zeitung ist. Oder eben ein höherwertiges Kinderbuch.
„Kindern gefällt, wenn Erwachsene das mit ihnen teilen, was ihnen selbst taugt“, ist die Bibliotheken- und Leseförderungs-Referentin überzeugt. Das gehe nämlich über bloßes Bespaßen hinaus und werde im besten Fall zu einem guten Gespräch mit wachem Interesse auf beiden Seiten.
Ich lese deshalb vor, weil Sprache wichtig ist und damit Fantasie sprießt.