Flucht-Drama gewinnt Goldene Palme
Die Preise von Cannes zeigen, was an dem Filmfestival heuer besonders gewesen ist.
Das wichtigste Filmfestival ging mit einem erstaunlichen Fazit zu Ende: Bei den Preisen ist Cannes heuer so politisch wie üblicherweise nur die Berlinale. Die Goldene Palme bekam am Sonntagabend der französische Regisseur Jacques Audiard für „Dheepan“, von vielen verkürzt als Flüchtlingsdrama bezeichnet. Tatsächlich ist der Film ein Thriller, dessen Welt nah an den Schlagzeilen der letzten Monate liegt: Der Tamile Dheepan (dargestellt von Jesuthasan Antonythasan) flieht per Boot aus dem Bürgerkrieg in Sri Lanka nach Frankreich. Von Fluchthelfern wird er zusammengewürfelt mit einem ihm unbekannten Kind und einer fremden Frau. Die drei werden aus Überlebensnotwendigkeit zur Familie. Bei aller Aktualität ist „Dheepan“vor allem ein stilistisch virtuoser Film mit überraschenden Wendungen. „Wir haben bei unserer Entscheidung nicht über Einwanderung diskutiert“, sagte Jurymitglied und Schauspielerin Roissy de Palma, „aber der Film bewegt dazu, Menschen auf der Straße anzusehen und sich nach ihrer Geschichte zu fragen.“
Der Grand Prix von Cannes geht an „Saul fia“(„Sauls Sohn“) des Regiedebütanten László Nemes, das Drama eines ungarischen Juden im Konzentrationslager, der als Teil eines Sonderkommandos die Körper der Erstickten aus der Gaskammer räumen und sie verbrennen muss. Der Film krempelt alle bekannten Ikonografien des Holocaust-Films um und überzeugt durch die radikal subjektive Perspektive.
Den Jurypreis bekam der Grieche Yorgos Lanthimos für seine fantastische Versuchsanordnung „The Lobster“: Ein Mann (Colin Farrell) hat nach der Trennung von seiner Frau in einem gefängnisartigen Hotel 45 Tage Zeit, um sich dort in eine neue Partnerin zu verlieben, an- dernfalls wird er in ein Tier seiner Wahl verwandelt. Er flüchtet in den Wald – und findet die Liebe in einer Gemeinschaft militanter Singles.
Für die beste Regie wurde der Taiwaner Hou Hsiao-Shen für seinen visuell makellosen historischen Martial-Arts-Film „The Assassin“geehrt. Den Preis für die beste Schauspielerin teilte die Jury auf: Rooney Mara bekam ihn für ihre Darstellung in Todd Haynes’ „Carol“(Filmstart Anfang 2016), der semiautobiografischen lesbischen Liebesgeschichte von Patricia Highsmith. Und Emmanuelle Bercot, die auch beim Eröffnungsfilm „La Tête haute“Regie geführt hatte, wurde für ihre Arbeit in Maïwenns schmerzhaftem Ehedrama „Mon Roi“ausgezeichnet.
„Bester Schauspieler“ist Vincent Lindon für „La Loi du marché“(„Das Gesetz des Marktes“). Lindon nannte es unter Tränen „einen politischen Akt, diesen Film in den Wettbewerb zu nehmen, über Menschen, die als Bürger nicht zählen.“Das Drama handelt von einem Mann, der nach langer Arbeitslosigkeit einen Job als Supermarkt-Security findet, wo er andere zu überwachen und damit zu erniedrigen hat.
Auch der Preis für das Beste Drehbuch geht an einen Film mit sozialpolitischer Agenda: „Chronic“des Mexikaners Michel Franco erzählt von einem Krankenpfleger (Tim Roth), der mit dem Umsorgen Todkranker die Leere im eigenen Leben auszufüllen versucht. „Chronic“spricht das Thema Sterbehilfe an, wie Tim Roth bei der Pressekonferenz zum Film betonte: „Es ist verrückt, Sterbehilfe zu verbieten. Denn sie passiert ohnehin die ganze Zeit.“
Der 68. Festival-Jahrgang von Cannes hat viele begeisternde Arbeiten präsentiert. Besonderen Eindruck machten zwei kommerzielle Filme außerhalb des Wettbewerbs: Das Actionspektakel „Mad Max: Fury Road“(bereits im Kino) und der Pixar-Animationsfilm „Alles steht Kopf“(ab Oktober) über das komplizierte Gefühlsleben einer Elfjährigen sind richtungsweisende Filme. Sie könnten mehr Einfluss darauf haben, wie das Kino in den nächsten Jahren aussehen wird, als der ganze Wettbewerb zusammengenommen.