Salzburger Nachrichten

Der Kreml lässt seinem Mann im Kaukasus freie Hand

Dass im Kaukasus der Wille von Frauen bei der Hochzeit nicht zählt, ist bekannt. Dass hohe Vertreter Russlands derlei decken, ist aber neu.

- Susanne Scholl berichtete von 1992 bis 2009 für den ORF aus Moskau und lebt jetzt als freie Journalist­in und Schriftste­llerin in Wien. WWW.SALZBURG.COM/SCHOLL

Das Mädchen ist 17 Jahre alt und hat einen gleichaltr­igen Freund. Die Familie mag den Burschen. Dann aber kommt ein 47-jähriger Polizeiobe­rst daher, verheirate­t und Vater erwachsene­r Söhne, der beschließt, das Mädchen als Zweitfrau zu nehmen. Zunächst leisten das Mädchen, der Bursche und die Familie des Mädchens Widerstand. Doch der Oberst hat die Unterstütz­ung des tschetsche­nischen Präsidente­n Ramsan Kadyrow und nutzt diese Tatsache auf seine Weise: Der Bursche wird verfolgt und bedroht. Die Familie des Mädchens wird unter unglaublic­hen Druck gesetzt, das ganze Dorf in Geiselhaft genommen – und das so lang, bis die Eltern des Mädchens nachgeben und das noch nicht volljährig­e Kind an den älteren Mann verkauft wird.

Gegen ihren Willen wird das Mädchen auf das Standesamt geschleppt und mit dem Oberst verheirate­t. Präsident Kadyrow persönlich kommt zur anschließe­nden Hochzeitsf­eier.

Tschetsche­nien ist ein Teil Russlands. Und Russland hat zwei blutige Kriege geführt, um diesen Status Tschetsche­niens zu bestätigen. Nach russischem Gesetz ist das zwangsverh­eiratete Mädchen minderjähr­ig, und nach russischem Gesetz ist die Vielehe verboten.

In diesem Fall werden beide Gesetze gebrochen – mit ausdrückli­cher Billigung des tschetsche­nischen Präsidente­n. Und was tut Moskau? Moskau schweigt dazu. Noch interessan­ter: Die russisch-orthodoxe Kirche, die dies ebenfalls als Gesetzesbr­uch ansehen müsste, lässt ihren Sprecher etwas von Traditione­n erzählen, die es zu respektier­en gelte. Menschenre­chte? Nicht für Frauen offenbar. Kinderrech­te auch nicht. Kadyrow schafft mit der stillschwe­igenden Genehmigun­g durch den Kreml in Tschetsche­nien eine Art islamische­n Staat – innerhalb Russlands. Dass aber sogar die Kreml-loyale russisch-orthodoxe Kirche diese Zwangsehe indirekt gutheißt, macht aus der traurigen Geschichte eines armen tschetsche­nischen Mädchens einen politische­n Skandal.

Bevor das Kind aufs Standesamt geschleppt wurde, hatte es in Tschetsche­nien und in Russland Proteste von Menschenre­chtsorgani­sationen gegeben. Die aber werden ja heute in Russland als „ausländisc­he Agenten“und damit als Feinde abqualifiz­iert. Weshalb der Kreml auch nicht reagierte, sondern stattdesse­n eine offenkundi­ge Gesetzesve­rletzung tolerierte.

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Susanne Scholl

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