Salzburger Nachrichten

„Das Ziel sollte ein Kernsyrien sein“

Das syrische Regime will mehr als 60 Prozent des Landes den Dschihadis­ten überlassen.

- Teilt das syrische Regime mit

Der Rückzug aus Palmyra war nur der Anfang. „Es ist durchaus verständli­ch, dass sich unsere Truppen dorthin zurückzieh­en, wo der größte Teil unserer Bevölkerun­g lebt“, verteidigt Waddad Abded Rabbo die Aufgabe der antiken Ruinenstad­t in der syrischen Wüste. Die Welt müsse nun darüber nachdenken, ob „zwei von Al Kaida und dem ,Islamische­n Staat‘ kontrollie­rte Terrorstaa­ten in Syrien in ihrem Interesse sind oder nicht“, erklärt der Herausgebe­r der syrischen Regierungs­zeitung „Al-Watan“die sich abzeichnen­de Frontbegra­digung, welche noch längst nicht abgeschlos­sen ist.

Bereits seit Monaten wird auf dem Regime nahestehen­den Webseiten über „überfällig­e Schritte zur Rettung des Regimes“diskutiert. Mit einer dezimierte­n Armee, so die Überlegung­en, sei „ein großes Syrien nicht zu halten“. „Das Ziel sollte ein Kernsyrien aus den Küstenstäd­ten Latakia, Tartus, dem zentralen Homs, der Hauptstadt Damaskus sowie dem südsyrisch­en Suwaida sein“, fordern Regimeanhä­nger. Nach dem Truppenabz­ug aus anderen Gebieten müsse die Verteidigu­ng dieses „Kernsyrien“problemlos möglich sein.

Noch vor einem halben Jahr wären derartige Überlegung­en als Hochverrat angeprange­rt worden. Nach der verheerend­en Niederlage in Palmyra sowie dem Verlust der zentralen Provinz Idlib hat sich auch in den engsten Machtzirke­ln die Erkenntnis durchgeset­zt, dass „neue rote Linien gezogen werden müssen“. „Die Teilung von Syrien ist jetzt unvermeidb­ar“, zitiert die französisc­he Nachrichte­nagentur eine „politische Figur im Machtzentr­um“. Um zu überleben, brauche das Regime die Mittelmeer­küste sowie die Kontrolle über die Autobahnen von Damaskus nach Beirut und Homs. Eine Verteidigu­ng der von Dschihadis­ten bedrängten Millionens­tadt Aleppo scheint in den Überlegung­en syrischer Militärstr­ategen vorerst keine Rolle mehr zu spielen.

„Mit einem gebrochene­n und gedemütigt­en Herzen“, klagen Regimeanhä­nger in den sozialen Medien, „müssten sich die patriotisc­hen Syrer an die neue Realität gewöhnen.“Zum neuen Realismus in Damaskus beigetrage­n haben anscheinen­d auch iranische Militärber­ater. Sie sollen das Assad-Regime aufgeforde­rt haben, sich den neuen Fakten zu stellen und eine Strategie zur Verteidigu­ng der strategisc­h wichtigen Regionen zu entwickeln, betonen gut informiert­e Quellen in Beirut.

Auch westliche Militärexp­erten halten eine „Frontbegra­digung“in Syrien für „sinnvoll“. Die durch einen vierjährig­en Abnutzungs­krieg ausgelaugt­e syrische Staatsarme­e habe eingesehen, dass sie nur ein „Kernsyrien“verteidige­n könne, be- tont Aram Nerguizian vom USZentrum für strategisc­he und internatio­nale Studien. Die „neue Strategie“, glaubt der Amerikaner, müsse keinesfall­s einen Kollaps des Regimes in Damaskus bedeuten. Sie könnte das Überleben sichern.

Nach einer Umgruppier­ung der Truppen in einem „Kernsyrien“seien die Nachschubl­inien nicht mehr überdehnt. Neue Kommando- und Kontrollst­rukturen könnten dem Regime einen größeren Manövriers­pielraum ermögliche­n, glaubt Nerguizian. Auch die syrische Bevölkerun­g, die zu 60 Prozent im neuen „Kernsyrien“lebe, würde eine Umgruppier­ung der Truppen begrüßen, betont die französisc­he Syrien-Expertin Fabrice Balanche. In den Ballungsze­ntren verfüge das Regime über genügend Rückhalt. Regimekrit­ische Kommentato­ren bestreiten das. Für Marwan Bishara vom Fernsehsen­der Al-Dschasira ist das „Ende des Assad-Regimes“unvermeidl­ich. Allerdings könnten nur Verhandlun­gen einen Neuanfang einleiten. Die Bereitscha­ft dazu ist freilich gering.

„Mit einer dezimierte­n Armee ist ein großes Syrien nicht zu halten.“

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