Rosarot durchs Gebirge turnen
Das Rosa des Giro d’Italia reißt Geisterorte in den italienischen Alpen aus der Leere der Zwischensaison – für ein paar Minuten.
Der Passo del Tonale schläft sich nach der Skisaison aus. Nur Nicos Bar ist geöffnet, bloß ist kein Gast da. Im TV läuft Fußball. Beim Giro d’Italia ist Ruhetag. Wunden werden gepflegt, leicht wird geradelt, alles muss locker bleiben. Sonst: Stille. Todesstarr ruht auch der Retortenort, ein Elend aus Funktionsbauten, über der Baumgrenze. Hotelburgen greifen in Nebelfetzen.
Doch aus dem Tal rollt nach dem Ruhetag der Giro heran. Gut 35 Kilometer Anstieg – etwa 2000 Höhenmeter – haben die Fahrer hinter sich, wenn sie die Passhöhe auf 1894 Metern überqueren. Aber bloß 55 Kilometer der ganzen 174 Kilometer des Tages sind hier erledigt. Bernhard Eisel, einziger österreichischer Giro-Starter, hat am Tonale seine Arbeit erledigt. „Wir kommen nach dem ersten Pass wieder heran. Vielleicht bringe ich dann, bevor es gleich wieder auf den Tonale hinaufgeht, ein paar Getränkeflaschen nach“, sagt Eisel am Ruhetag im Hotel in Madonna di Campiglio. Ins taktische Spiel ist er dieses Mal nicht eingerechnet. Am Tonale hat Bernhard Flieher berichtet für die SN aus Aprica er „wieder ein paar Minuten und dann kommst eher nicht mehr nach“. Dann fahren sich die vorn den Sieg aus und der Rest schaut zu, dass er in der Karenzzeit bleibt, die beim Giro „freundlich großzügig gerechnet ist“, sagt er.
In der alpinen Ödnis funktioniert der Giro d’Italia wie ein Reißverschluss, der in beide Richtungen zu öffnen ist. Zuerst ist alles offen und leer. Dann verdichtet sich alles und löst sich ebenso schnell wieder auf. Nicht vergleichbar ist der Tonale mit legendären Anstiegen, wo Zehntausende die Straße säumen. Der Tonale ist ein Übergang zu den wirklich harten Prüfungen dieses Tages – Passo dell Aprica (wo schließlich Mikel Landa aus Spanien seinen zweiten Etappensieg in Folge feierte) und der legendär steile und enge Mortirolo. Hautnah kommen sich dort Fans und Fahrer, bilden eine wogende Einheit. Am Tonale geht es zwischen leeren Parkflächen durch. Dieses Ereignis in Rosa nähert sich schlendernd, nur in Nuancen bemerkbar. Rosa Luftballons an Caféhaustischen sind erste Lebenszeichen. Zahlreiche offizielle Giro-Fahrzeuge und Teamwagen sind unterwegs. Es trudeln in der Nacht vor den Rennen auch am Tonale ein paar Wohnmobile ein. An der Strecke werden rosa Hinweisschilder für die Fahrer montiert. Und irgendwann beginnt es zu rasen – selbst im Anstieg. Und schließlich rauscht es vorbei.
Eisel weiß, was solche Etappen für ihn bedeuten: mitfahren, den Schmerz in den Beinen so gut es geht wegtreten, Regen, Kälte und Nebel wegdenken. Bei seinen SkyTeamkollegen Leopold König und Elia Viviani sieht es anders aus. König, Eisels Zimmerkollege, soll in den Tagen der Berge im Gesamtklassement noch in die Top 5 rutschen, Viviani das Rote Trikot des besten Sprinters behalten. „Dann könnten wir durchaus zufrieden sein“, sagt Eisel. Für Sky wäre das eine erfreuliche Schadensbegrenzung, nach dem Ausstieg von Richie Porte, zunächst Mitfavorit für die Gesamtwertung, dann von eigenen Fehlern und Pech bei einem Sturz demoralisiert. König fährt auf den harten Anstiegen gut mit, wo Alberto Contador als Gesamtführender Tag für Tag eindrucksvolle Übermacht beweist und alle Angriff seines letzten Widersachers Fabio Aru abwehren kann. Als Etappendritter baute der Spanier am Dienstag seine Führung weiter aus.
Vom Tonale rast diese Spitze längst zu Tal, als Eisel vorbeikommt. „Die Spitze pedaliert noch, während wir hinten nur noch turnen“, sagt Eisel. Eisel turnt am Tonale in einer größeren Gruppe jener, die nie gewinnen, aber trotzdem nichts fürchten dürfen. Ein Surren kündigte in der letzten Kurve knapp unterhalb der Passhöhe die EiselGruppe an. Zwischen den mächtigen Skihängen rattern Hubschrauber. Es surrt lauter. Es rauscht kurz in der Geisterstadt. Und schon huschen die Fahrer um die Kurve in die steile Abfahrt. Hinter ihnen öffnet sich der Reißverschluss wieder. Der Giro verschwindet. Es verhallen die spärlichen Anfeuerungen. Der Streckendienst räumt nur wenige Minuten später auf. Der Reißverschluss zieht sich jetzt unten im Tal in Ponte di Legno zu. Auf der Abfahrt dahin muss sich Eisel „eh so stark konzentrieren, dass da keine Zeit für Gedanken an die Schmerzen an den nächsten Bergen“bleibt.