Dirigieren ist wie die Welt umarmen
Wien ist zurzeit Kreuzungspunkt von Orchestern aus den USA und Europa.
Das Dilemma, in das die Berliner Philharmoniker anlässlich der Wahl eines neuen Chefdirigenten, die ergebnislos endete, jüngst gerieten, zeigte einen Umstand deutlich auf. Zwischen den großen „alten“Dirigenten um die 70 und den Aufsteigern so um die 40 klafft eine Lücke. Abgesehen von Christian Thielemann war keiner je ins Gespräch gebracht worden, nicht einmal Franz Welser-Möst. Oder Antonio Pappano. Der Chef der Royal Opera Covent Garden war gerade in Wien mit seinem Santa Cecilia Orchestra, und auch der Zustrom von Dirigenten hält an, die oft für den Berliner Chefposten genannt wurden. Yannick Nézet-Séguin etwa dirigierte gerade im Musikverein. Der 40-jährige Chefdirigent des Philadelphia Orchestra (und der Rotterdamer Philharmoniker) ist mit seinem Orchester auf Tour durch Europa, abgelöst wird er im Musikverein von Andris Nelsons, der allerdings – am 6. Juni – nicht mit „seinem“Boston Symphony Orchestra antritt, sondern mit dem City of Birmingham Orchestra, wo er bis 2014 als „Erbe“von Sir Simon Rattle wirkte. Als dessen potenzieller Nachfolger in Berlin wurde Nelsons ebenfalls hoch gehandelt, winkte aber indirekt ab mit der Vertragsverlängerung in Boston. Eben dies macht auch Nézet-Séguin bis 2022 in Philadelphia, wo er 2012 in einer prekären Situation eingestiegen war. Nur mühsam konnte damals der Konkurs des Orchesters – immerhin eines der „Big Five“der USA – abgewendet werden. Der erste Auftritt am Montag in Wien folgte Konzerten unter anderem in Köln, Dresden, Berlin und tags zuvor in Paris, dem Konzert wiederum folgte Jubel im Musikvereinssaal. Im Anschluss daran von den SN befragt, ob er denn von Berlin träume, lachte der bubenhafte Frankokanadier herzlich. Nein, er lasse sich lieber Zeit und sei mit den „Philadelphians“sehr glücklich.
Und umgekehrt auch, spürbar. Dass die brillanten Amerikaner ein rein russisches Programm spielten, war wohl nicht der Politik geschuldet, denn mit Tschaikowskis 5. Symphonie kann man Muskeln zeigen, was fast zu knalligen Effekten à la „Star Wars“führte. Die Einspielzeit im Goldenen Saal war wohl zu kurz gewesen. Seine immense Energie bändigte Nézet-Séguin deutlicher im kontrastreichen 1. Violinkonzert von Schostakowitsch als sorgsamer Begleiter von Lisa Batiashvili, die den aufwühlenden, anspruchsvollen Part mit Weltklassevirtuosität bewältigte. Ihre Zugabe war doch so etwas wie Politik: „Requiem for Ukraine“des georgischen Landsmanns Igor Loboda.